Published
0 140 0
Kaspar Hauser beobachtet und dargestellt in der letzten Zeit seines Lebens von seinem Religionslehrer und Beichtvater H. Fuhrmann Aus dem Vorwort Ich übergebe hiermit zur Steuer der Wahrheit dem größern Publikum meine bis zu Kaspar Hausers letztem Lebensaugenblicke seit dem Oktober 1832 über ihn angestellten und fortgesetzten Beobachtungen. Nur Fakta, die ich selbst gesehen habe, gebe ich, jedes weitere Raisonnement bleibt ausgeschlossen, das Urteil wird sich von selbst ergeben. I. Seltsame Menschen werden in der Regel in entgegengesetzten Richtungen beurteilt. Dieser Grundsatz hat sich in diesen Tagen wieder auf eine merkwürdige Weise bewährt. Kaspar Hauser, dessen Geschichte bis zu seinem tragischen Ende aus einem trefflich geschriebenen Buche, das den Titel führt: »Kaspar Hauser, Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben des Menschen, von Anselm Ritter von Feuerbach«, sowie aus den Daumerschen und Merkerschen Heften, aus Zeitungen und Korrespondenzen wohl den meisten bekannt ist, liefert den Beleg dazu. Er setzt gegenwärtig viele Gemüter in Bewegung und die Teilnahme an seinem Schicksale hat sich bereits auf eine so lebendige Weise ausgesprochen, ist noch immer so rege, daß einige Bemerkungen über sein inneres Leben, über die Art und Weise, wie er den Religionsunterricht, der ihm zur Vorbereitung auf seine Konfirmation, welche er am 20. Mai 1833 feierte, erhalten und aufgefaßt hat, über sein gewaltsam herbeigeführtes Ende und seine letzten Lebensaugenblicke teils nicht unerwartet, teils nicht uninteressant sein werden. Kaspar Hauser hat im Leben seine Gönner und Gegner gefunden, die schriftlich und mündlich ihr Urteil über ihn ausgesprochen haben, und es wird auch jetzt nach seinem Tode nicht fehlen, daß entgegengesetzte Richtungen des Urteils über ihn sich offenbaren. Mündlich geben sie sich bereits kund, und es steht zu erwarten, daß das auch schriftlich geschehen wird. Wenn dies nun nur von solchen geschieht, die selbst gesehen und beobachtet haben, wenn dies, gleichviel ob für oder gegen Hauser, mit der in solchen Fällen gerade am meisten notwendigen Ruhe, Besonnenheit und Unbefangenheit geschieht, so kann durch die nach geschlossener Untersuchung vielleicht erfolgende Veröffentlichung des Tatbestandes von der kundigen Hand eines tüchtigen Rechtsgelehrten manches für Seelen- und Rechtswissenschaft gewonnen werden, was außerdem noch auf längere Zeit verborgen geblieben wäre. Hätte Hauser uns, die wir mit regem Bedauern einen Unglücklichen in ihm erblickten, der nach langer unverschuldeter Gefangenschaft für seinen Körper liebende Sorgfalt und Pflege, für seinen Geist Bildung, für sein Gemüt Erheiterung und Aussöhnung mit dem Leben und den Menschen, die es ihm verkümmert hatten, bedurfte, getäuscht, – was ich indessen nach meinen Beobachtungen, wenn es mir nicht mit mathematischer Gewißheit dargetan wird, niemals glaube – so müßten wir freilich arge Trugschlüsse gemacht haben und nach ganz anderem Maßstäbe als bisher die Menschen in ihrer Denkweise bemessen. Hätten sich aber diejenigen, die noch immer an ihm irre sind, die sogar die erst am 14. ds. Mts. an ihm verübte schaudervolle Tat auf seine Rechnung zu schreiben nicht ungeneigt sind, in ihrem Urteil über ihn geirrt, was ich bis jetzt noch immer mit aller Bestimmtheit annehme, dann wäre eine milde und christlich-liebevolle Beurteilung des Nebenmenschen mit stärkerer Sprache gepredigt als auf allen Kanzeln der Welt. In diesen Bogen nun soll dargestellt werden, und zwar dargestellt aus längerer genauer Bekanntschaft und eigner Beobachtung. Nicht vorgefaßte Meinung, sondern aus Erfahrung gewonnene Überzeugung wird hier dargelegt. Zunächst richte ich den Blick auf Hausers inneres Leben, wie ich es kennen gelernt habe, und ich habe ihn demnach in doppelter Hinsicht zu betrachten, einmal von seiten seines Geistes, fürs andere von seiten seines Herzens. Was die erste Seite betrifft, so halte ich mich hier zuerst an die Fa**ungskraft und glaube, darin den natürlichen Weg gewählt zu haben. Denn es ist klar, daß die Gegenstände, welcher Art sie auch seien, mögen sie der äußern Anschauung dargeboten werden oder bloß im Gebiete des Denkens liegen, um über sie ein Urteil zu fällen und Schlüsse auf sie zu begründen, vorher aufgefaßt werden müssen. Auch wird es kaum jemand bestreiten, daß von der Art und Weise der Auffa**ung eines Gegenstandes die Anwendung oder Beurteilung desselben und ihre Richtigkeit oder Unrichtigkeit, Mangelhaftigkeit oder Vollständigkeit abhänge. Eben deswegen muß die Fa**ungsgabe eines Menschen, die Gelegenheit, die er hatte, dieselbe zu üben und zu bereichern, welcherlei Gegenstände ihn umgaben, wie sie sich ihm darboten oder gereicht wurden, sorgfältig ins Auge gefaßt werden, wenn wir über sein Tun und Treiben, wenn wir überhaupt über seine Lebensäußerungen absprechen wollen. Jedes Urteil über den Wert oder Unwert eines Menschen, über den innern Grund seiner Reden und Handlungen sollte vorher in eine Frage nach seiner Fa**ungskraft verwandelt werden und es würde manches auch mit mehr Gerechtigkeit und Liebe gefällt werden, als es gewöhnlich geschieht. Doch ich wollte ja von Hauser reden und habe also die Frage nach seiner Fa**ungskraft zu beantworten. Und wie war sie? Nach meinem Urteil ein eigentümliches Gemische von Jünglingsreife und Kindereinfältigkeit. Das sind Widersprüche, wie manche sagen. Und sie haben recht. Das ist Verschrobenheit, sagen wieder andere, und auch sie mögen, vorausgesetzt, daß sie damit nicht einen dem moralischen Werte widersprechenden Sinn ausdrücken, gewissermaßen recht haben. Allein, möchte man beiden entgegnen, woher soll denn die Regelmäßigkeit in Hauser kommen, dessen ganze Entwicklung unregelmäßig war? Man tut diesem Unglücklichen so vielfach wehe, indem man ungerechte, übermäßige Forderungen an ihn macht. Weil er einem Jünglinge gleich sah und eine Jünglingsstimme hatte, weil er auf eine fast wunderbare Weise an das Tageslicht kam, so sollte er eben so allen Jünglingen gleich stehen, sie, wenn es möglich war, übertreffen und ein kleiner Wundermann sein. Das geschah denn nicht. Jetzt redete er überraschend gut über einen Gegenstand und zeigte tüchtige Auffa**ung der Gegenstände überhaupt, dann aber auf einmal kam der Tölpel und man war versucht, böse zu werden über den großen Menschen, der ein so gar kleines Maß von Fa**ungskraft entwickelte. Was war davon zu sagen? Viele halfen sich kurz, waren also gleich mit der Sache fertig, indem sie dieselbe unter die vielfa**ende Rubrik »Betrügerei, Verstellung« brachten. Viele wunderten sich, schüttelten den Kopf und konnten die Sache nicht begreifen. Allein bei genauerer Betrachtung wird teils der Verdacht gegen Hauser, teils das Rätselhafte seiner Fa**ungskraft verschwinden. Man darf durchaus keine Parallele zwischen ihm und unsern in normalmäßigen Lebensverhältnissen aufgewachsenen Kindern ziehen. Bei diesen wird von der ersten Spur des Bewußtseins, das sie verraten, durch die Mutter, die Amme, die Kindesmagd, durch den Umgang mit andern Kindern und dergl. die Fa**ungskraft geweckt und geübt. Bei Hauser war das alles anders. Aus den Armen seiner natürlichen Pfleger gerissen, geriet er gleich in den ersten Kindheitsjahren in die Hände unnatürlicher Menschen. Mit der Türe seines Loches, in das er gesteckt wurde, schloß sich für ihn die schöne weite Welt und eine sehr enge, von niedrigen Mauern eingeschlossene, welche ihm nichts zur Betrachtung darbot als ein paar hölzerne Rosse, ein Stück Brot und einen Krug mit Wa**er, war der Schauplatz seines Wirkens und Lebens. In dieser körperlichen und geistigen Gefangenschaft blieb er bis zu jener Zeit, wo er in Nürnberg zuerst mit Welt und Menschen bekannt wurde. Da stürmte das Leben auf ihn ein. Die unermeßliche Zahl der Gegenstände, die sich ihm, sobald er etwas aufgewacht war, darbot, erdrückte ihn fast. Alles war ihm neu, alles gleich interessant. Aber er verstand nichts und der Totaleindruck, der hier auf ihn gemacht wurde, konnte keineswegs wohltätig auf seine so ungeübten, zum Teil schlummernden, zum Teil förmlich vergrabenen Geisteskräfte wirken. [Fußnote] Ich habe das oft an ihm bemerkt und würde jeden andern meiner Schüler, bei denen natürlich andere Voraussetzungen als bei Hauser galten, der Zerstreutheit beschuldigt oder mir Unfähigkeit, mich einem andern deutlich zu machen, vorgeworfen haben. Aber bei Hauser mußte ich billig sein. Denn wer noch so mühsam wie er an konkreten Begriffen sammelte, dem mußten die abstrakten allerdings des Schweren und Rätselhaften genug bieten. Ich durfte, was man doch bei dem Konfirmandenunterricht in der Regel darf, bei ihm fast gar nichts voraussetzen. Denn tat ich's bei einem Artikel, so fühlte ich bei dem andern die daraus natürlich abzuleitenden Mängel und Lücken nur allzumerklich. Er hatte zwar in Nürnberg mancherlei gehört und rühmte auch die Bemühungen der Herren Prof. Daumer und Pfarrer Hering an ihm recht dankbar; aber er hatte gar vieles davon nur äußerst mangelhaft aufgefaßt und zeigte auch in meinem Unterrichte, daß sein Fa**ungsvermögen für sein Alter sehr ungeübt und mangelhaft war. Ich mußte äußerst vorsichtig im Urteile darüber sein, ob er die ihm vorgetragenen Lehren begriffen habe, und nur zu oft die Wahrnehmung machen, daß, wenn bisweilen der Jüngling aus ihm dem Anschein nach recht verständig sprach, mir das Kind in ihm sagte, er habe mich nicht recht verstanden. Gleichermaßen verhielt es sich mit seiner Urteilskraft. Ich kann und will hier gleichfalls nur das geben, was ich zu beobachten und wahrzunehmen Gelegenheit hatte. Schärfe und Stumpfheit wechselten auch hier mit einander ab. Beide erregten in gleichem Grade mein Erstaunen. Ich konnte auch hier durchaus nicht auf den Jüngling rechnen. Er sprach zwar öfters; aber von Konsequenz und Beständigkeit war keine Rede, denn er wurde alsbald durch das Kind verdrängt. Ebensowenig kann ich sagen, daß Hauser eine eigentlich scharfe Beurteilungsgabe besaß. Es gab allerdings Fälle, wo sie vorhanden zu sein schien; allein diese waren Blitzen zu vergleichen, die schnell entstehen, flammend, ja blendend leuchten, aber ebenso schnell vergehen, und die Dunkelheit oder Finsternis, die vor uns liegt, nur noch bestimmter sehen und erkennen la**en. So verhielt es sich bei ihm mit rein geistigen wie mit sinnlichen Gegenständen, mit Personen wie mit Sachen. [Fußnote] Wenn ich aber hier sage, Hausers Urteilskraft sei keineswegs eine scharfe gewesen, so ist dies natürlich immer im Verhältnis zu seiner körperlichen Entwicklung zu verstehen, vermöge welcher man dem äußeren Anschein nach allerdings stärkere Forderungen an ihn zu machen berechtigt gewesen wäre. Allein es wird sich weiter unten zeigen, daß auch hieran seine frühere Lebensweise schuld war, für welche neben seiner Erzählung auch die eigentümliche Bildung und Lage eines Teiles seiner Eingeweide spricht, und namentlich die geringe Entwicklung einiger Organe seines Gehirns, wie sie sich bei frühzeitig geistig angeregten Menschen nicht findet. [Fußnote] Man würde daher mit Unrecht von Hauser mehr gefordert haben als er bis jetzt wirklich leistete, und man kann eben deswegen auch nicht behaupten, daß, weil man im Verhältnis zu seinem Äußern nicht genug fand, Häuser das nur zu sein vorgab, was er war. Nicht unbedeutend erscheint dieser Umstand aber zur Erläuterung mancher Dunkelheiten und Rätsel, mit denen die letzte Katastrophe seines Lebens umgeben ist. Je reifer in seinem Urteil Kaspar angenommen wird, desto mehr Schwierigkeiten bietet die Untersuchung über sein erstes Erscheinen wie über seinen Austritt aus dem Leben. Je mehr wir ihm Geübtheit im Urteil zutrauen, desto tiefer in den Hintergrund träten Tausende von geistreichen und hellsehenden Menschen, welche bis jetzt in Kaspar den unglücklichen Findling, den bedauernswerten Menschen erblickten. Was helfen aber Annahmen, oder vielmehr, was braucht man sich mit Annahmen zu behelfen, wo Beobachtungen und eigene Überzeugung zu Gebote stehen? Und diese Beobachtungen haben mich eben zu der Überzeugung geführt, welche ich gerade über Hauser ausgesprochen habe. Es ist nicht wissenschaftliche Schärfe und Präzision des Urteils, die ich an ihm vermißte. Ich konnte sie ja gar nicht von ihm erwarten. Aber jene Fertigkeit, die sich bei den meisten Menschen, die im Leben und mit andern Menschen aufgewachsen sind, zeigt, die die Umgebungen richtig zu würdigen weiß und über das Gehörte oder Gesehene oder Erlernte sich bestimmt und klar zu äußern versteht, meine ich hier. Daran fehlte es dem guten Kaspar. Allein wie hätte er auch jetzt schon dazu kommen sollen? Ich habe die Überzeugung, daß er es schon dahin gebracht hätte, wenn sein Leben länger gedauert hätte. Gerade das Leben muß hier ja helfen, der Katheder tut und kann es nicht, wenn er gleich dabei nicht entbehrt werden kann. Man kann, beispielsweise zu reden, aus dem Unterrichte in der Weltgeschichte recht viel lernen, aber weit lehrreicher ist die Geschichte, welche wir selbst leben. Daher Leute, die oft in gar kein Buch gesehen haben, ein weit gediegeneres Urteil über die Erfahrungen des Lebens fällen als der, welcher eine ganze Bibliothek durchgelesen hat. An Hauser aber bemerkte ich eben diese Übung nicht, es fehlte ihm die Erfahrung, jene treffliche Lehrerin. Ich bin überzeugt, er hätte nachgeholt, was er ohne seine Schuld versäumt hatte. An Anlagen fehlte es nicht, wenn sie auch nicht glänzend waren, aber an Ausbildung derselben; nicht zwar, was seine Lehrer anbelangt, denn da sah man aus vielen Reminiszenzen, die er vorbrachte, daß viel an ihm geschehen war, sondern an jener Ausbildung, die das Leben gewährt. Von Seite des Herzens habe ich an Hauser manchen Vorzug bemerkt, und es ist mir nicht leicht ein Mensch von mehr Sanftmut, Weichheit, Freundlichkeit, Gefälligkeit, Güte und Liebenswürdigkeit vorgekommen, als er. Ich hatte vielfache Gelegenheit, dieses alles zu beobachten. Auch gegen keinen Menschen fand ich ihn feindselig gestimmt, gerne redete er von jedem das beste, dabei war er aber weit entfernt, die Fehler oder Laster, die er an andern bemerkte, nicht als solche zu erklären. Sie beleidigten sein sittliches Gefühl, aber er urteilte immer mit äußerster Schonung über den Fehlenden. Besonders wohl gefiel er mir bei einer Gelegenheit, wo ihm Unrecht getan wurde, indem man einen Wunsch, den er hegte, und wozu ich ihm selbst die Anregung gab, aus unlauteren Motiven ableitete. Er fühlte das schmerzlich und weinte heimlich; allein nicht ein bitteres Wort kam über seine Lippen. Er fügte sich und hätte eher alles getragen, als sich rauh und unfreundlich ausgesprochen, ja er redete sogar mir beruhigend zu, als ich mit tadelnder Verwunderung mich über die Sache äußerte. Ein besonders schöner Zug in seinem moralischen Charakter war seine Mildtätigkeit gegen Arme. Sah er einen, oder hörte er von der Not desselben, so bedurfte es keiner weitern Aufmunterung, um ihn zur tätigen Unterstützung zu bewegen. Er teilte verschwenderisch seine Gaben aus und hatte nur immer die Sorge dabei, ob es denn auch genug sei, was er gegeben habe. Noch eine Stunde vor seiner Verwundung legte er davon eine Probe in meinem Hause ab, auf die ich später unten kommen werde. Doch eine andere Tatsache will ich hier erwähnen, welche charakteristisch ist. Hauser war in der Familie des Herrn von *** einheimisch, er war, wie man zu sagen pflegt, wie das Kind im Hause. Täglich beinahe, wenigstens wann es ihm möglich war, kam er in diesen ehrenwerten Kreis und unterhielt sich da oft mit Schachspiel, worin er in der letzten Zeit einige Fertigkeit erlangt haben soll. Es wurde eine Kleinigkeit bestimmt, welche der Verlierende in eine gemeinschaftliche Ka**e zahlen mußte, woraus dann die Ausgaben für kleine Partien u. dgl. bestritten wurden. Bereits waren wieder einige Gulden angefallen. Als nun, während Hauser das Geld zählte. Fr. v. *** fragte: »Was werden wir denn dieses Mal damit machen?« so antwortete er kurz entschlossen: »Wir wollen es den Armen geben, und da fragen Sie nur den Herrn Pfarrer Fuhrmann, der kennt alle Armen!« Dieser Antrag wurde in der edlen Familie allgemein angenommen, und Fr. v. *** ließ mich vor einigen Tagen zu sich kommen, machte mich mit dem Vorgange bekannt und händigte mir die durch einen Beitrag von ihrer Seite vermehrte Summe ein. Bereits sind schon mehrere recht Dürftige mit Unterstützungen erquickt, deren erfreute Mienen dem vollendeten Hauser sein behaglich liebliches Lächeln gewiß entlockt hätten. Ich nannte diesen Zug charakteristisch, und zwar aus dem Grunde, weil Hauser, immer ein Freund von Lustpartien und überhaupt äußerst lebenslustig, lieber einen Genuß opferte, wenn er nur den Armen Gutes tun konnte. Aber er gab nicht pharisäisch. Nicht um sich, sondern um die Sache war es ihm zu tun. Was seinen persönlichen Mut anbelangt, so fand ich denselben ganz, wie ihn v. Feuerbach schildert. Hauser war furchtsam, und recht kindisch furchtsam, ganz das Gegenteil von dem, was er früher gewesen war. Er kannte einst keine Furcht, man mochte auf ihn hauen oder schießen. [Fußnote] Solange ich ihn kannte, war das anders. Ging man mit einem Messer oder überhaupt einer Waffe auf ihn los, so konnte man ihn treiben, wohin man wollte. Bittend und flehend und nicht mit erheuchelten, sondern mit wahren Geberden und Bewegungen der Angst zog er sich zurück und kauerte sich, fand er einen Winkel, ballförmig in demselben zusammen. Ich erprobte das selbst, aber ganz absichtslos. Ich war nämlich mit ihm in dem Hause des Herrn ***, eines Mannes, der mit ganz besonderer Tätigkeit in Hausers Angelegenheiten wirksam war. Unter mehreren Gegenständen im Zimmer befand sich auch in einer Ecke ein schöner Kavalleristensäbel, welchen ich bewunderte und, weil er mir sehr groß vorkam, um seine Schwere zu untersuchen, aus seiner eisernen Scheide zog und mit gestrecktem Arme vor mich hinhielt. Als ich das letztere tat, stund Hauser mehr als die doppelte Länge des Säbels von mir entfernt am Fenster und es war unmöglich, ihn von meinem Platze aus zu erreichen. Dennoch stellte sein Gesicht die Wirkungen des größten Schreckens dar, und er bat mich flehentlich, das gefährliche Instrument wieder an seinen Ort zu bringen. Ich willfahrte. Hauser war wieder froh wie vorher, und ich bedauerte es, diesen guten Menschen in eine so große Angst gesetzt zu haben. Hauser konnte keinem Menschen wehe tun sehen und machte mir, wie ich an seinen Mienen nicht undeutlich sah, öfters stille Vorwürfe, wenn er mich mit meinem kleinen Knaben zanken hörte, und ich mußte mich dann förmlich bei ihm verantworten und ihm auf das weitläufigste demonstrieren, daß Wilhelm – so heißt mein Kleiner – seinen Verweis wohl verdient habe. Einen andern Beweis von seinem Mitleid hat mir eine äußerst achtungswerte Dame erzählt. Er war bei ihr zu Tische geladen. Da betrug sich dann eines der Kinder etwas widerspenstig und bildete einen augenblicklichen Gegensatz gegen den guten sanften Kaspar, welcher mit stillem Unbehagen das Benehmen des Unartigen betrachtete. Die Dame, hierdurch gereizt, bediente sich des Ausdrucks: »Ach lieber Gott, man sollte doch alle Knaben bis zu ihrem zwölften Jahre ins Loch sperren, damit sie sich keine solche Unarten angewöhnen können.« Als Hauser diese Worte hörte, sprach er beruhigend: »Ach nein, das wäre das härteste, was man sich denken kann, da würden ja alle Knaben und auch der gute Fr. da um ihre ganze Kindheit gebracht.« Neben diesen Äußerungen seiner Herzensgüte bemerkte ich, wie schon erwähnt, ziemliche Lebenslust bei ihm. Von einem Konzerte, das er besuchen, einem Balle, dem er beiwohnen, einer Gesellschaft, an der er teilnehmen durfte, hörte ich ihn immer mit einem großen Wohlbehagen sprechen. Am Theater hatte er eine besondere Freude. Wenn man ihn aber mit einer von den ehrenwerten Familien dahier, wo er liebevolle Aufnahme gefunden hatte, auf einem Spaziergange oder bei einer Landpartie sah, so wurde man hingerissen von der lieblichen Freundlichkeit, die sein ganzes Gesicht überstrahlte. Wenn er etwas dergleichen vor sich wußte, so war er wie ein Kind. Er war zerstreut und allzu sehr nach außen gekehrt, so daß es manchmal der zurechtweisenden Aufmunterung bedurfte, um seine Aufmerksamkeit dem Lehrgegenstande zu erhalten. Doch wenn ich ihm dann ein Gebot oder Verbot gegeben hatte, so konnte ich auf den bereitwilligsten Gehorsam rechnen. Hätte ich von ihm verlangt, er solle seine Lektion bei mir um Mitternacht nehmen, ich glaube, er wäre mit derselben Freundlichkeit und Bereitwilligkeit gekommen, mit der er immer morgens um acht Uhr in mein Zimmer trat. Nie habe ich den geringsten Widerspruchsgeist an ihm bemerkt. Er war stets sanft, hingebend, folg- und duldsam. Wollte ich ihn aber recht im Eifer sehen, so durfte ich nur einen kleinen Lobspruch spenden. Denn etwas eitel, aber im unschuldigen kindlichen Sinne, erschien mir Kaspar immer. Er hatte gerne schöne Kleider und putzte sich überhaupt gerne, hatte es auch gar gerne, wenn man seine Sachen, seine Geschicklichkeit in einzelnen Dingen anerkannte oder bewunderte, und zeigte nach meinem Urteile in dieser Beziehung sich mehr mädchenhaft. Überhaupt bemerkte ich, wenn ich Gelegenheit hatte, ihn im geselligen Umgänge zu beobachten, daß er sich mehr an das weibliche als männliche Geschlecht anschloß. Ich fand aber auch darin nichts Besonderes, sondern vielmehr etwas sehr Natürliches. Es ging ihm bei den Frauen, als dem weicheren zarteren Geschlechte, im Grunde auch besser als bei den Männern, die ihm zwar Teilnahme und Freundlichkeit, aber niemals jene innige, zärtliche schenken konnten, die den tiefer fühlenden weiblichen Seelen eigentümlich ist. Auch paßte meiner Meinung nach Hausers Charakter mehr zu den Frauen als zu den Männern. Er war noch bei weitem nicht der rasche ungestüme Jüngling, der er seinen Jahren, die man ihm ansah, und seiner Stimme nach hätte sein sollen. Er war der sanfte, liebliche Knabe auf seiner geistigen Entwicklungsstufe, dem das rauhe Wort wehe tut; er war die Pflanze, die nur das milde Spiel des weichen Zephirs ertragen kann, noch nicht der junge Baum, der durch des Sturmwinds Andrang immer tiefer wurzelt. Ich glaube, daß er unter diejenigen Menschen gehörte, über die das sanfte Wort alles vermag, welche aber dagegen durch rauhe harte Behandlung leicht so verwirrt werden können, daß sie gar nicht mehr wissen, was sie tun, oder lebenslang ein schüchternes Mißtrauen gegen jeden hegen. Endlich muß ich noch sagen, daß ich ihn immer recht offen und aufrichtig gegen mich fand. Ich gewahrte nicht leicht eine Unwahrheit an ihm, eine Lüge aber nie. Zu dem ersten hatte er bei mir gar keinen Grund und zu dem andern schien er mir viel zu gutmütig. Mag er nun bei andern auch manchmal eine Unwahrheit gesagt haben, so sehe ich darin gar nichts anderes, als jene alltägliche Erscheinung, die sich bei den meisten, ja, es wird nicht zu kühn behauptet sein, bei allen Kindern seines geistigen Alters findet. Wer Vater oder Mutter ist oder wer sich mit der Erziehung von Kindern abgegeben hat, wird das gar wohl bemerkt und in jenen kindischen Unwahrheiten, die er an seinen Kindern oder Pfleglingen wahrgenommen hat, nicht gerade einen Fehler seiner Kinder, sondern der Kinder überhaupt erkannt haben, die in der Regel Egoisten sind und, um in ihrer Behaglichkeit nicht gestört zu werden, ihren Willen durchzusetzen, einer Strafe zu entgehen usw. es mit der strengen Wahrheit nicht so ganz genau nehmen, ohne deswegen Lügner zu sein. Dieses Wort sagt viel. Es setzt ausdrückliche Bosheit und Verschmitztheit voraus und den festen Willen, zu schaden. Von allen diesen Dingen nahm ich aber an Hauser auch nicht das Geringste wahr. Aus seinen Äußerungen, die er zu mir über die Personen, welche sich seiner angenommen hatten, machte, konnte ich auch recht wohl ein mit warmer Dankbarkeit erfülltes Herz entnehmen. Er äußerte sich so liebevoll, so gemütlich über sie alle, verriet eine so große Anhänglichkeit, ein so warmes Freundschaftsgefühl für sie, daß ich eine recht lebendige Aufforderung darin fand, sein kindliches Vertrauen zu erwerben. Er erzählte so gerne von ihnen, wie viele Beweise ihrer Liebe er erfahren. Wenn ich ihm dann sagte: »Sehen Sie, mein lieber Kaspar, wie sehr Sie Ursache haben, gegen den lieben Gott recht von Herzen dankbar zu sein, sehen Sie, wie er, der gute Himmelsvater, so recht wunderbar und liebevoll für die Unglücklichen sorgt,« so traten ihm alsbald die Tränen in die Augen. Bemerkte ich ihm ferner, daß er seinen Wohltätern nicht besser danken könne, als wenn er sich alle Mühe gäbe, ein recht guter und brauchbarer Mensch zu werden, so sprach er mit größter Entschiedenheit den Vorsatz aus, auch alles dazu aufzubieten. II. Doch ich will nun zu einem andern Abschnitte übergehen und Hauser, den ich bisher so darstellte, wie ich ihn als Mensch im allgemeinen fand, nun als Schüler in meinem Konfirmandenunterricht darstellen. Er konnte ihm nicht erteilt werden wie den übrigen Kindern, die schon an der Mutterbrust den lieben Gott kennen lernen, von ihrem sechsten oder siebenten Lebensjahre an im Verhältnis zu unserm unglücklichen Kaspar als wahre Gelehrte die Schule besuchen und, nachdem sie da sieben bis acht Jahre auf die mannigfachste Weise mit Gott und seinen Offenbarungen bekannt gemacht worden sind, im Konfirmandenunterricht teils Rechenschaft davon zu geben haben, wie sie die ihnen bereits mitgeteilten Lehren aufgefaßt, teils zur verhältnismäßig vollkommenen Erkenntnis des Christentums überhaupt, teils zur bestimmten Auffa**ung des Symbols der Kirche, zu welcher sie sich bei dem Konfirmationsakte verpflichten, gebracht werden sollen. Schüchternheit und Freude waren daher die Gefühle, welche in meinem Heizen kämpften, als das wohlwollende Vertrauen sehr geachteter Männer den merkwürdigen Findling meinen Händen anvertraute. Ich war begierig, recht begierig auf die erste Stunde, wo er zu mir kommen würde, verkannte das Schwierige meiner Aufgabe an ihm keineswegs und fand auch, als ich den Unterricht mit ihm begann, daß v. Feuerbach recht hatte, wenn er von ihm behauptete, »daß der ihm eingeborene Pyrrho [Fußnote] bei vielen Gelegenheiten immer wieder zum Vorschein kam.« Es war bei ihm immer ein guter Vorrat von anschaulichen Beispielen notwendig und ich kann mit Wahrheit sagen, daß die Zeit vom Oktober 1832 bis zum Mai 1833, welche ich in wöchentlich fünf bis sieben Stunden zu seinem Unterricht verwendete, für mich als Jugendlehrer eine sehr lehrreiche gewesen ist. So tüchtig die Herren Professor Daumer und Pfarrer Hering in Nürnberg und Herr Lehrer Meyer dahier mir in die Hand gearbeitet hatten, so fand ich dennoch recht viel zu tun. Indessen die gute, gemütliche, unschuldsvolle und nach religiöser Überzeugung so begierige Seele Hausers erleichterte mir vieles und machte mir die Unterrichtsstunden zu wahren Freudenstunden. Die Zeit verging so schnell und angenehm, daß Kaspar und ich uns oft wunderten, wenn die Uhr uns sagte, wir seien statt einer zwei Stunden zusammen gesessen. Da Hauser in Nürnberg nach dem Spenerschen Katechismus seinen Unterricht zum Teil erhalten hatte, da ferner in diesem Buche der lutherische Katechismus ganz erklärt wird, so behielt ich denselben bei; die Bibel aber war und blieb das Hauptfundament. Allein ich mußte, wie schon erwähnt, eine ganz andere Methode in dem Gebrauche des Lehrbuches befolgen als es bei jungen Leuten, die den Konfirmandenunterricht gewöhnlich genießen, der Fall ist. Bei jedem, der nicht im Zustande der Verwilderung aufgewachsen ist, findet der Lehrer Anknüpfungspunkte für die positiven Lehren des Christentums wie für die charakteristische Auffa**ung und Darstellung derselben von seiten der Kirchengesellschaft. Das Gedächtnis ist vertraut mit den Hauptsätzen derselben, der Verstand nimmt das meiste von denselben auf, ohne den geringsten Zweifel zu hegen, ein inneres Nötigungsgefühl, wie es ein bekannter theologischer Gelehrter nennt, bestimmt ihn dazu, ohne seiner Selbständigkeit wehe zu tun, weil es in dem Gebiete derselben einheimisch ist. Bei Hauser war das nun freilich anders. Zwar war sein Gedächtnis durchaus nicht leer, sondern zeugte ganz unzweideutig davon, daß viel an ihm geschehen war. Allein je mehr sein Verstand sich entwickelte, je mehr der Kreis seiner Lebenserfahrungen sich erweiterte, desto mehr zeigte sich in ihm der Mangel früherer oder, wenn ich so sagen darf, ursprünglicher Geistesentwicklung. Vorübung und weitere Bildung machten bei ihm nicht eigentlich verschiedene Perioden aus, sondern fielen fast in eins zusammen. Indessen kam ich, unterstützt durch die oben angegebenen, in Hausers Individualität liegenden moralischen Mittel, nach meinen Wahrnehmungen, zwar nicht ohne große Schwierigkeit, doch zu einem erfreulichen Ziele. Es liegt nicht in dem Plane dieser Bogen, Stunde für Stunde zu verzeichnen, was mit Hauser und von ihm in dem Konfirmandenunterricht geschah. Teils könnte ich das nicht mehr mit genauer historischer Treue, teils würde vieles weder interessant noch ungewöhnlich erscheinen, teils würde ich eine weitläufige theologisch-pädagogische Abhandlung zu schreiben haben. Nur einiges will ich anführen, um einerseits zu zeigen, wie Hauser den Unterrichtsstunden beiwohnte, andererseits, wie es anzufangen war, um den Aufforderungen, die an den Religionslehrer im Verhältnis zu ihm gemacht wurden, zu genügen. Aus seinen sonderbaren Schicksalen nahm er zwar keine Veranla**ung zu Einwendungen gegen Gottes segensvolles Dasein, wie er es einst (nach Feuerbachs Buch) getan hatte, sondern er war schon so weit, die Spuren desselben in der wohltätigen Änderung seines Lebensganges zu erkennen und zu preisen. Allein dennoch fehlte es nicht an Augenblicken, wo das Entzücken über Gottes Vollkommenheit sich in sogar tadelnde Bemerkungen verwandelte. Als Beweis für das erstere will ich nur anführen, daß Hauser in einer der ersten Unterrichtsstunden sich ungefähr so gegen mich äußerte: »Anfangs, als ich nach Nürnberg gekommen war, konnte ich mir gar keinen Begriff von etwas Geistigem machen, und es war mir nicht möglich, mir einen Gott zu denken, der allgegenwärtig ist. Ich meinte, zu jedem einzelnen Gegenstand der Natur, den ich erkannte, sei jemand notwendig, der ihn verfertige und dann an seinen Platz stelle. Jetzt denke ich freilich anders, der Herr Professor (Daumer) hat mich eines bessern belehrt. – – – – – Besonders sehe ich aus der Veränderung, die mit meinem Schicksale vorgegangen ist, daß Gott viel mächtiger und viel besser ist als alle Menschen. Denn es waren doch die Menschen, die mich eingesperrt hatten, und am Ende vielleicht umbringen wollten. Das litt aber der allmächtige Gott nicht, sondern er hat mich erhalten, und es ist mir jetzt recht wohl in der Welt, in die er mich geführt hat: – – – – – Es ist mir ein rechter Trost, daß ich Gott kenne, denn nun weiß ich es, daß ich nicht verla**en bin, wenn ich auch von allen Menschen verstoßen würde.« Da ich gleich anfangs mit Hauser (bei dem es mir, wie ich ihn und seine Begebenheiten auffaßte, ganz besonders darum zu tun war, daß er sich gleich bei mir in der Stunde als vollkommen einverstanden mit den religiösen Wahrheiten, die ich ihm vortrug, zeige, da ich bei ihm nichts dem Leben überla**en wollte oder durfte), ausgemacht hatte, daß er nicht etwa dieses oder jenes mir zulieb bis auf weiteres möge dahingestellt sein la**en oder nur darum annehmen, weil ich es ihm sage, so fehlte es ganz natürlich nicht an Oppositionen und Einwendungen. Indessen kamen diese alle aus einem so unbefangenen Herzen, trugen alle das Gepräge der Gutmütigkeit in so hohem Grade an sich, daß ich daraus nur das Bestreben, seiner Sache gewiß zu sein, nicht das, bloß einen Widerspruch einzulegen, wahrnahm. Gerne war ich daher bereit, aufzubieten, was ich vermochte, um diese heilsdurstige Seele zu befriedigen, und ich will hier aus den mancherlei Notizen, die ich mir über den Gang seiner religiösen Bildung nach jeder Lehrstunde machte, einige mitteilen. Am 24. Oktober 1832 redeten wir unter anderm davon, daß Gott, von dem alles herkomme, das allervollkommenste Wesen sein müsse. Hauser schien im Anfang damit einverstanden. Aber auf einmal fing er an: »Wie ist es doch möglich, daß der vollkommene Gott so etwas Böses schaffen konnte wie die Schlange, durch welche die ersten Eltern verführt wurden, und den Apfel, durch dessen Genuß sie in ein so großes Elend kamen!« Ich schlug darauf die Bibel auf und bemerkte ihm, daß Gott den Baum ja nicht für den Menschen geschaffen habe und eben deswegen denselben ausdrücklich warnte, nicht davon zu essen, weil er gerade ihm schädlich sei. Daraus folge noch keineswegs, daß er an und für sich böse gewesen wäre. Ferner käme es auch nicht darauf an, anzunehmen, daß die Schlange ausdrücklich gesprochen habe wie wir Menschen sprechen. Die Eva könne auch die Worte, welche nach der mosaischen Darstellung der Schlange in den Mund gelegt werden, bei sich selbst gesprochen haben, indem sie die Schlange behaglich von dem den Menschen verbotenen Baume fressen sah. Gott habe jeder Art von Geschöpfen ihre eigentümliche Nahrung angewiesen und zu dem Menschen darum warnend gesprochen, weil derselbe nicht bloß einem tierischen Triebe, sondern freier, auf Gründen beruhender Wahl zu folgen habe. Und wenn wir auch annehmen, die Schlange habe wirklich gesprochen, so liege in der Art und Weise, wie sie sich an die Eva wandte, durchaus nichts Gott Unanständiges und es sei nicht in ihm die Ursache des menschlichen Falles zu suchen, sondern in dem Menschen selbst, der die von Gott ihm anerschaffene Freiheit mißbrauchte und eben deswegen auch alle traurigen Folgen seiner Tat hätte tragen müssen. Hauser zeigte sich damit zufrieden und wir schieden, nachdem wir vorher unser Schlußgebet gesprochen hatten, auseinander. Am 26. Oktober hatte er wieder Lehrstunde und am Ende derselben brachte er den erst vor zwei Tagen besprochenen und nach meiner Meinung abgefertigten Gegenstand abermals zur Sprache, wiederholte in betreff des Baumes der Erkenntnis des Guten und Bösen seine frühere Bemerkung und wollte Gott die Schuld des Bösen in der Welt beilegen. In diesem Augenblicke trat eines meiner Mädchen mit Namen Julie ins Zimmer und fragte mich irgend etwas Gleichgültiges. Ich beantwortete ihre Frage und wendete mich an Hauser etwa so: »Sehen Sie, lieber Hauser, dieses Mädchen, welches ich als mein Kind herzlich liebe. Glauben Sie wohl, daß ich ihm etwas versagen werde, wenn ich sehe, daß es ihm nützlich ist, oder daß ich etwas ihm Schädliches in seiner Nähe stehen la**e, ohne es vor dem Gebrauch desselben zu warnen? Warnt man nicht auch Sie, mein lieber Freund, vor gefährlichen Sachen, indem man Ihnen die damit verbundenen Nachteile für Sie sagt? Nehmen Sie nun an, ich stelle, ehe wir miteinander fortgehen, zwei Gläser mit roter Flüssigkeit auf unseren Tisch, welche sich durch ihre äußere Form genau unterscheiden. In dem einen sei roter Wein, aber es sei weniger schön als das andere, in welchem sich rote Farbe befindet. Ehe ich gehe, bemerke ich der Julie: ›Siehe, liebes Kind, aus diesem Glas da, ob es gleich schön ist, darfst du nicht trinken, es ist etwas für dich Schädliches darin. Hüte dich also davor und beweise mir dadurch deinen Gehorsam. Wenn du aber aus dem andern weniger schönen Glase trinken willst, so sei es dir erlaubt, es ist roter Wein darin.‹ Nun gehen wir beide fort. Julie aber, die allein ist, betrachtet die Gläser und denkt: ›Es ist doch recht sonderbar, daß mir der Vater das schöne Glas verbietet‹, betrachtet es lange, tritt näher und immer näher, berührt es mit der Hand, faßt es an, trinkt daraus – und schreit laut auf, denn es ist eine ätzende rote Flüssigkeit darin, wodurch sie sich den ganzen Mund verbrennt und sehr krank darauf wird. Wer trägt die Schuld?« Hauser war gleich mit der Antwort da: »Die Julie!« und setzt hinzu: »Nun versteh ich das auch mit dem Baum im Paradiese und sehe, daß ich nur noch nicht recht darüber nachgedacht habe, als ich meinte, der liebe Gott hätte den Baum nicht schaffen sollen. Der Baum hat keine Schuld und der liebe Gott auch nicht, sondern die Menschen, die davon aßen.« Mit der Ewigkeit Gottes wollte Hauser nur insofern einverstanden sein, als er ihm zwar kein Ende, aber doch einen Anfang mit und zu einer gewissen Zeit beilegen zu müssen glaubte. Es waren mancherlei Beispiele nötig, um ihm zu zeigen, daß alles mit und in der Zeit Entstandene nur wieder durch ein anderes entstehen kann, daß aber alles, was zeitlich entsteht, den Keim seines Untergangs in sich selber trage, und eben darum auch zu einer bestimmten Zeit aufhöre, und daß man bei ernstem Nachdenken über die erschaffenen Dinge endlich auf einen Schöpfer kommen müsse, der die Ursache seines Daseins in sich selber habe und deswegen nicht aufhören könne, weil er nicht gleich den andern erschaffenen Wesen angefangen habe. Betrachtet man aber den Zweifel Hausers überhaupt, so ergibt sich als Resultat, daß Gefühl für Religion zwar dem Menschen angeboren sei, aber die Kenntnis derselben durchaus erworben werden müsse. Als wir miteinander von Gottes Allmacht, Allgegenwart und Allwissenheit sprachen und ich meinem Schüler außer einigen Bibelsprüchen, welche jene göttlichen Eigenschaften lehren, auch einige Bibelgeschichten zum Beweise anführte, so sagte er mir, daß ihm diese Erkenntnis sehr wohltätig sei und daß er auch in seinem Leben, so kurz es sei, denn als seines Lebens Anfang bezeichnete er seinen ersten Auftritt in Nürnberg, recht ernste Hinweisungen auf sie erhalten habe. Begierig, welche es seien, erzählte er mir den am 17. Oktober 1829 gegen ihn gerichteten Mordversuch und noch eine Veranla**ung, bei der er durch eigene Unvorsichtigkeit beinahe sein Leben verloren hätte. Mit dem letzteren verhielt es sich folgendermaßen: Hauser wohnte damals im Hause des Herrn Biberbach in Nürnberg und hatte eine Aufgabe auszuarbeiten, zu der er eines Buches bedurfte, welches auf einem Brett an der Wand eines Zimmers stand. Er stieg auf einen Stuhl und fiel gerade, als er das Buch von seinem Orte herablangen wollte, selbst herab. Im Fallen riß er aber eine an der Wand hängende geladene Pistole herunter, deren Schuß ihn an der rechten Schläfe ziemlich verwundete. Ich habe die Narbe dort selbst gesehen und gefühlt. »Bei diesen beiden Gelegenheiten,« meinte er, »habe ich doch recht deutlich sehen müssen, daß Gott alles weiß und überall ist und viel mächtiger ist als die Menschen. Ich wäre gewiß getötet worden ohne ihn, während ich jetzt nur mit Narben davon gekommen bin.« Bei der Gerechtigkeit Gottes fiel es dem Hauser auf, daß der liebe Gott, wie er ihn gewöhnlich nannte, es doch so manchem guten Menschen nicht gar gut, sondern oft recht übel gehen la**e. Er selber kenne solche. Als ich ihm aber den Unterschied zwischen äußerem und innerem Glücke auseinandersetzte, da sagte er: »O wie will ich mich hüten, böse zu sein, damit ich mir meinen inneren Frieden erhalte. Mit diesem kann ich arm und äußerlich recht elend, im Herzen aber doch ruhig sein und mein Elend eher tragen, als wenn ich ein Bösewicht bin!« Als von der Güte Gottes die Rede war, so war Hauser unerschöpflich in Bemerkungen über dieselbe und versicherte, daß er dieselbe in seinem Leben ganz vorzüglich erfahren habe. »Der liebe Gott,« sagte er, »gibt mir weit mehr als ich verdiene und brauche. Gewiß will er mir dadurch zu verstehen geben, daß ich gegen die Menschen recht gütig sein soll. Ich will es aber auch sein.« Ich habe manche Gelegenheit bemerkt, bei der er diese Gesinnung durch die Tat bewährte, und auch von sehr achtbaren Personen dieses Zeugnis über ihn vernommen. Die Gnade Gottes leuchtete ihm besonders, als ich ihn auf sich selbst verwies und zur ernsten Selbstprüfung aufforderte, vollkommen ein, denn, sagte er, ich bin bei weitem noch nicht so gut als ich vor Gott sein sollte, ich habe noch recht viel zu tun an mir und der Herr Meyer muß oft viel Geduld mit mir haben.« In einer Unterrichtsstunde, wo wir von den Engeln, dem Teufel, der Sünde sprachen, fand ich bei Hauser für die Lehre von den ersteren viel Empfänglichkeit. Aber über den Teufel machte er mir folgende Bemerkung: »Es ist doch recht sonderbar, niemand hat noch einen Teufel gesehen und doch wollen ihn die Leute abbilden. Sie malen ein ganz häßliches Gesicht mit Bockshörnern, einen sonderbaren menschlichen Leib mit Bocksfüßen und einem langen Schweif. Sagen Sie mir doch, ob denn das das rechte Bild vom Teufel ist?« Ich sagte zu ihm, ob er wohl eine häßlichere Figur sich denken könne als die, welche durch eine solche Zusammensetzung entstehe. Als er das verneinte, sagte ich ungefähr so: »Lieber Hauser, um dem Menschen das Böse recht verächtlich zu machen, muß man auch für das Auge das allerhäßlichste und abstoßendste Bild wählen. Wenn Sie nun wieder eine Abbildung wie die eben von Ihnen beschriebene sehen, so denken Sie ja nicht, daß Sie etwa ein Porträt von einer Person sehen, die jemand gesehen hat, sondern la**en Sie sich immer dabei einfallen: ›So häßlich würde ich in den Augen Gottes sein, wenn ich ein böser Mensch wäre.‹ Hauser war zufrieden gestellt und versprach, immer ein recht guter Mensch zu sein. In bezug auf die Sünde bemerkte er: »Hier ist mir immer etwas aufgefallen. Es ist doch recht sonderbar, daß Gott dem Menschen den Gedanken des Bösen eingab.« Als ich ihn fragte, woher er denn das wisse, daß Gott dem Menschen den Gedanken des Bösen eingäbe, so sagte er: »Die Menschen handeln ja böse und wenn sie die Gedanken dazu nicht hätten, so würden sie nicht böse handeln.« Ich bemerkte ihm, daß Gott dem Menschen zwar das Denkvermögen, aber durchaus nicht den bösen Gedanken eingegeben, daß er in ihm nicht eine Schachfigur – dieses Beispiels bediente ich mich, weil ich wußte, daß Hauser Schach spielte –, sondern ein Wesen geschaffen habe, das vollkommene Freiheit zu wählen besaß, was man ohne alle Kunst und Deutelei daraus schließen könne, daß Gott bei dem Baum im Paradiese, von dem wir ja bereits gesprochen hätten, den Menschen vor dem Mißbrauche seiner Freiheit durch die Darstellung der Folgen desselben gewarnt habe. Durch die Auseinandersetzung dieser Gedanken beruhigte ich Hauser zwar ziemlich, jedoch bemerkte ich, daß ich anschaulicher werden mußte, um ihm ganz deutlich zu sein. Ich mußte also in die Welt der äußern Erscheinungen heraus und ad oculos demonstrieren. Da wählte ich denn das Beispiel eines Messers oder einer Schere, mit welchen Instrumenten der Mensch ebenso gut seinen Nutzen fördern als sich tödlich verwunden könne und fragte meinen Schüler: »Was würden Sie wohl zu einem Menschen sagen, der sich mit einem Messer in den Finger schneidet und im Schmerze ausriefe: ›Ach, wenn es doch keine so gefährlichen Instrumente gäbe! Der Verfertiger derselben ist doch ein recht eigener Mensch, daß er sie machte!‹ Hauser lachte und sagte: »Ich würde ihn damit auslachen und ihm sagen: ›Warum hast du denn auch das sonst so nützliche Instrument so ungeschickt gebraucht?‹« »Und –« sagte ich darauf – »wenn Ihnen nun jemand einen Einwurf der Art machte, wie Sie mir ihn eben über Gott gemacht haben, daß es sonderbar von ihm sei, daß er dem Sünder den Gedanken des Bösen eingegeben habe?« »So würde ich,« sagte Hauser, zufriedengestellt, »ihm antworten, wie Sie mir, und er müßte dann zufrieden sein, wie ich es jetzt bin!« Besonders stark und entrüstet sprach sich aber Hauser bei Gelegenheit des zweiten Gebotes gegen diejenigen Menschen aus, die einen falschen Eid schwören oder eine eidliche Versicherung oder Zusage brechen. Solche, meinte er, könne man gar nicht hart genug bestrafen. In v. Feuerbachs Buch über Hauser kommen folgende Stellen vor: »Sah er (Hauser) einen Pfarrer, so geriet er in Schreck und Entsetzen. Fragte man ihn um die Ursache, so antwortete er: ›Weil mich diese Leute schon sehr gepeinigt haben.‹ – – – – Kaspar Hauser Nach der Steinzeichnung von Fr. Hanffstengel, Kempten 1830. In Kirchen war es Kasparn ebenfalls gar nicht wohl zumute. Die Kruzifixe darin erregten ihm ein entsetzliches Schaudern, indem seine Vorstellung noch lange Zeit den Bildern unwillkürlich Leben verlieh. Das Singen der Gemeinde dünkt ihm ein widerliches Schreien. ›Zuerst,‹ sagte er einmal nach einem Kirchenbesuche, ›schreien die Leute, und, wenn diese aufhören, fängt der Pfarrer zu schreien an.‹« Man könnte in diesen Äußerungen Zeichen der Frivolität und wenig Anlage zur Religiosität erblicken, wenn man in Hauser sich den 17–18jährigen Jüngling dächte. Allein, da er von diesem nur den Körper, vom Kinde dagegen die Seele hatte, so fällt dieses Bedenken weg. Und das um so mehr, als sich Hausers Urteil und Ansicht hierin durchaus geändert hat. Ich hatte Gelegenheit, das zu bemerken, als wir vom dritten Gebote mit einander redeten. Er erzählte mir bei dieser Gelegenheit, daß er die Erlaubnis habe, in einem Zimmer des Appellationsgerichts, dessen Fenster in die Kirche gingen, die Sonntagspredigt anzuhören. Gerne gehe er dahin, weil er nach seiner Überzeugung da andächtiger sein könnte als zu Hause in seinem Zimmer, wo ihm immer allerlei einfalle, was nicht zum Beten gehöre, und wo es ihm auch schon geschehen sei, daß er durch Besuche an der Übung seiner Andacht gestört wurde. Um zu sehen, mit welchem Erfolge Hauser die Kirche besuche, unterhielt ich mich öfters mit ihm über die am Sonntag vorher gehaltene Predigt und bemerkte mit Vergnügen, daß er den religiösen Vorträgen mit Andacht und Aufmerksamkeit beiwohne. Bisweilen erzählte er mir auch unaufgefordert, welchen Eindruck die Sonntagspredigt auf ihn machte. Es wird wohl hier kaum notwendig sein zu erwähnen, daß ich hierbei nicht die von mir gehaltenen Reden meine, weil diese meine Darstellung sonst in doppelter Beziehung als Eitelkeit betrachtet werden könnte; sondern ich rede hier von meinen hiesigen Herren Kollegen, die gewöhnlich des Vormittags predigen. Das vierte Gebot erfüllte mich, als ich mich mit Hauser darüber unterhielt, mit Wehmut. Er hatte ja seinen Vater und seine Mutter nie gesehen und gekannt. Er beneidete meinen kleinen Wilhelm, der öfters ins Zimmer zu mir kam, daß dieser einen Vater habe. Aber sein Gefühl sprach sich nicht etwa aus wie bei einem Menschen, der seine Eltern, die er kannte, durch den Tod verloren hat. Es war nicht jene Wehmut, die einen solchen durchdringt, welche sich in Hauser regte, sondern mehr die Sehnsucht nach einem zwar noch nicht empfundenen, aber doch von andern ganz besonders süß geschilderten Genuß. Hätte ich im gegebenen Falle nicht lieber das Verhältnis der Eltern und Kinder nur flüchtig andeuten sollen, um Hausers Gemüt zu schonen? Manche mögen es glauben. Ich war und bin entgegengesetzter Meinung. Der Schleier über Hausers Schicksal konnte bei seinen Lebzeiten noch zerrissen und Vater und Mutter vor ihm stehen als überglückliche Menschen, die ihr geraubtes und nun wieder gefundenes Kind an die hochklopfende Brust drückten, oder sie konnten vor ihm stehen als die entlarvten Tyrannen, die schändlich genug ihr Kind einem äußerlichen Gewinne opferten, oder sie konnten ihn als gute oder böse Menschen in der Ewigkeit erwarten. Jeden dieser Fälle hatte ich vor Augen, als ich das Kindesgefühl in ihm zu wecken bemüht war. In jedem dieser Fälle sollte Hauser den Christen im wahren Sinne des Worts darstellen. Bis aber die Zukunft hell und klar werden würde, sollte er, das war mein Bemühen, den Himmelsvater als seinen Vater desto inniger verehren und seine kindliche Liebe denen weihen, die ihm Vater- und Muttersorge gaben. Als wir einmal auf die Rachsucht zur Rede kamen, so fand ich bei ihm keinen Anknüpfungspunkt. Er kannte ihre Regungen nicht und ich glaube, daß niemand diese Untugend, die so gewöhnlich unter den Menschen teils als Gesinnung, teils als Wort, teils als Tat sich ausspricht, an ihm bemerkt hat. Ich wenigstens müßte der Wahrheit untreu werden, wenn ich ihm nicht hier öffentlich das Zeugnis gäbe, daß er nach meinem Urteil keines Rachegedankens fähig, ja daß er denselben als entehrend für den Menschen und höchst töricht hielt. »Denn,« sagte er unter anderem, »das ist doch recht töricht, wenn ich an einem Menschen das zu tun wünsche, was ich schlecht und lieblos nannte, als er es an mir tat!« Bei dem sechsten Gebote sprach sich Hauser recht kindlich aus und meinte, das ginge ihn gar nichts an, da er nicht verheiratet sei und sich auch nicht verheiraten werde, weil er gar nicht absehe, was man eigentlich mit einer Frau anfange. Es werde ihm alles, was er nur immerhin brauche, gereicht, und wenn er mit Frauenzimmern reden wolle, so könne er das ja auch tun. Da ich ihm erklärte, er könne ja nicht wissen, was noch in Zukunft aus ihm werde, und was er dann tun würde, und ich müsse ihm deswegen durch das sechste Gebot jenen Sinn empfehlen, der nur das denkt, redet und tut, was Gott und die Menschen immer sehen dürften, ohne die Liebe und Achtung vor uns zu verlieren: so hörte er mich aufmerksam an und ließ sich's gefallen. Das achte Gebot gab ihm besondere Veranla**ung, sich darüber auszusprechen, welche Torheit und wie böse das sei, etwas, das einem als Geheimnis anvertraut werde, weiter zu sagen. Nicht einmal im größten Vertrauen dürfte es geschehen. Was einem anvertraut werde, das müsse man für sich behalten, sonst verdiene man gar kein Vertrauen. Der vollendete v. Feuerbach sagt in seinem mehrfach angeführten Buche, worin er Hausers früheren Seelenzustand schildert, nachdem er von den Bemühungen Daumers, demselben zur Gotteserkenntnis zu verhelfen, und von den vielen Schwierigkeiten, die ihm seines Schülers Zweifel verursachten, gesprochen hat: »Aus diesem wenigen mag man nun schließen, wie es vollends mit der positiven Religion, mit der christlichen Dogmatik, mit dem Geheimnis der Versöhnungslehre und andern dergleichen Lehren stand.« Feuerbach selbst glaubte anfangs, ich würde gerade mit diesen Lehren vielleicht am wenigsten auf Hauser wirken können. Allein die Übung zeigte es anders. Gerade hier sprach Hauser das meiste, das erhabenste Gefühl aus, gerade hier zeigte er eine Rührung und Eifer, der jedem, der ihn so sah, wie ich, zur Bewunderung hingerissen hätte. Seine Tränen flossen unzählig bei der Erzählung der Geschichte Jesu Christi, sein Wort und seine Gebärde drückten die tiefste Ehrfurcht, die heiligste Bewunderung gegen den leidenden Erlöser aus. Da ich ihm früher im einzelnen die Entzweiung des Menschen mit Gott und das aus derselben hervorgehende Bedürfnis der Vermittlung und Versöhnung nachgewiesen, da ich ihm aus seinem eigenen Innern den Beweis dafür geliefert hatte, so begriff er leichter als ich dachte. Zwar meinte er einmal, Gott hätte ja auch ohne den grausamen Tod des unschuldigen Jesu Christi uns Menschen von der Sünde lossprechen und mit der verlorenen Seligkeit wieder beschenken können, ein Bedenken, das sich im natürlichen Menschen so oft und vielfach ausspricht. Allein, da ich mich bei meinem Schüler weder in weitläufige philosophische Deduktionen noch in dogmatische Demonstrationen einla**en durfte, denen sein geistiges Ich nicht gewachsen war, so mußte ich, auf eine künftige weitere Entwicklung seiner Geisteskräfte bauend, mich nur auf weniges beschränken, was ihm sein Bedenken heben könnte, ohne dabei seine Ehrfurcht vor Gott zu schwächen oder etwa gar in den Schein zu kommen, ihm etwas aufzudrängen, was sich mit seiner Überzeugung durchaus nicht vereinen könne. Ich schlug daher folgenden Weg bei ihm ein, daß ich ihn zurückführte in die Lehrstunden, wo wir miteinander von Gottes Weisheit, Gerechtigkeit, Gnade gesprochen hatten. »Damals,« sagte ich zu ihm, »waren Sie von der Wahrheit dieser Eigenschaften vollkommen überzeugt und gaben sich zufrieden, als ich Ihnen sagte, diese Weisheit und Gerechtigkeit wirkten gar oft nicht augenscheinlich für uns, wir müßten sie aber zugeben, weil einesteils ihr Dasein und Wirken sich uns später kund gibt, andernteils unsere Einsicht viel zu beschränkt sei, sie zu ergründen. Aus diesem letzteren Grunde haben wir Menschen immer die Frage in Bereitschaft, ob denn diese oder jene Begebenheit nicht eben so gut auch anders sich hätte zutragen können, als sie sich wirklich zugetragen hat. Aus eben diesem Grunde, so bald wir einmal die Weisheit Gottes für erhabener als die unsrige erkennen, müssen wir aber annehmen und einsehen lernen, daß das, was er tut, gerade so, wie es geschehen ist, und nicht anders geschehen konnte. Wollen Sie aber auch hier ein in die Augen fallendes Beispiel, so denken Sie sich Christum als denjenigen, der eine fremde Schuld zur Bezahlung freiwillig für den Fall übernommen hat, als der Schuldner nicht zahlen kann, oder als einen Bürgen. Der Schuldner ist das Menschengeschlecht, der Gläubiger ist Gott, die Schuldenlast, der Tod, ist durch die Sünde bewirkt. Wenn wir sie nicht bezahlen, dann sind wir ewig verloren. Da sendet uns Gott aus lauter Erbarmen in Jesu Christo, seinem eingeborenen Sohne, einen Bürgen zu, der unsere Schuld zahlt, den Tod erleidet, ohne demselben zu erliegen, weil er, wie Sie wissen, am dritten Tage wieder auferstanden ist.« Diese Worte sind indessen nur das Resumee einer weitläufigen Unterhaltung, die ich mit Hauser über diesen Gegenstand hatte, aber aus mancherlei Umständen hier ausführlich nicht wiedergeben kann noch will. Es wird aber jeder Unbefangene aus den bisherigen Mitteilungen ersehen, daß es dem nun vollendeten Unglücklichen um religiöse Belehrungen sehr angelegentlich zu tun war, und aus der Art und Weise seiner Einwürfe ein Gemüt entnehmen, welches voll kindlicher Gefühle war und einen Geist, der so ziemlich stark mit den Schwierigkeiten seiner Entwicklung zu kämpfen hatte. Bei der Lehre von den Sakramenten hätte ich mehr Einwendungen von ihm erwartet als ich wirklich erfuhr. Allein selbst diejenigen, die er machte, waren von weniger Erheblichkeit und werden darum hier übergangen. Nur das finde noch eine Stelle, daß ich dem Hauser sagte und auch selbst völlig überzeugt bin, daß, wenn die Religion zu nichts weiter Anlaß gibt, als zu dürren, herzlosen Verstandserörterungen, sie entweder an sich selbst oder für den, der sich auf keine andere Weise mit ihr zu beschäftigen weiß, aufgehört habe, Religion zu sein, d.h. jenes heilige Band der Ehrfurcht und Liebe, das die Herzen mit dem lieblichsten Zuge nach oben hebt und Trost und Frieden von dort herab, gleich einem milden, erquickenden Frühlingstau, in sie herabsenkt. Der Ahnung und dem Glauben muß immer ein weites großes Feld bleiben. Aber dieses ist nicht eine öde Steppe, wie sie der kalte egoistische Verstandesmensch nennt, der von dem sonderbaren Grundsatz ausgeht, was ich nicht begreifen kann, ist nicht wahr, sondern es ist eine Aue, mit den lieblichsten Blumen bewachsen, deren herrliche Formen dem Auge wohltun, deren liebliche Wohlgerüche mit verjüngender Kraft auf die Seele wirken, die sich unter ihnen ergeht. Deswegen empfahl ich meinem Hauser ein emsiges, andachtsvolles Lesen in der Bibel, eine besondere Aufmerksamkeit auf den Gang seines Lebens, fleißigen Besuch der Kirche und frommes, fortgesetztes, demutsvolles Nachdenken über die bereits gehörten religiösen Wahrheiten. Er aber gelobte es mir und wir beschlossen unsere Lehrstunden, welche, wie ich mit Wahrheit in der von mir zum Druck beförderten »Konfirmationsfeier Kaspar Hausers« S. 7 sagte, schöne selige Stunden für mich gewesen sind, um in wenigen Tagen jene Feier zu begehen. Der 20. Mai des vorigen Jahrs war der feierliche Tag, von welchem noch jetzt Hunderte als von einem Tage der Erhebung für sie sprechen. Es war Hausers Konfirmationstag. Die angesehensten hiesigen Familien, in welchen mit wahrer Christenmilde kindliche Gefühle in dem Bedauernswerten erweckt worden waren, umgaben ihn und seine Pfleger und Führer, welche ihn auf seinem heiligen Gange in die zum Erdrücken angefüllte Kapelle der schönen hiesigen Gumpertuskirche begleitet hatten. Hier wurde zuerst aus dem bayrischen Gesangbuche das Lied Nr. 2: »Herr, vor deinem Angesicht hat die Andacht uns versammelt« von der ganzen Gemeinde gesungen. Hierauf betrat ich, als Religionslehrer und Beichtvater Hausers, den Altar, sprach ein Gebet und hielt zuerst an die ganze Versammlung, sodann an Kaspar Hauser eine kurze Anrede, in welcher ich an den Zweck der Feier erinnerte. Nach Beendigung derselben trug ein Sängerchor unter der Leitung des Stadtkantors Dürrner das Gebet: »Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen gewissen Geist; verwirf mich nicht von deinem Angesicht und nimm deinen heiligen Geist nicht von mir« vierstimmig vor. Während dieses Gesanges kniete Hauser auf einem Betschemel vor dem Altare. Der Augenblick aber, in welchem er sich niederließ, die Rührung, mit der er im stillen obige Worte betete, brachten auf die ganze Versammlung eine außerordentliche Wirkung hervor. Aller Lippen regten sich leise; aller Herzen beteten mit ihm und für ihn. Nach Beendigung des Gesanges erhob sich Hauser wieder, und ich richtete nun, in gedrängtester Kürze wiederholend, womit wir uns während der Lehrstunden beschäftigt hatten, das Wort ausschließend an ihn. Wer den Inhalt desselben genau lesen will, der wird sich sein Benehmen in religiöser Beziehung auf dem Sterbebette erklären können und in einzelnen seiner Äußerungen, an welche sich der Zweifel so gerne hängen möchte, nichts Befremdendes finden. [Fußnote] Nach der Konfirmationshandlung sah ich Hauser bei einem freundlichen Familientische wieder, wozu ich gleichfalls gezogen wurde. Hier bemerkte ich Ernst und stilles Nachdenken an ihm und eine gewisse Verklärtheit seines Gesichts, die mir sehr wohltat und woraus ich den Beweis entnahm, daß ihm die christliche Wahrheit zu Herzen gegangen und eben deswegen der Eindruck seiner Konfirmationsfeier auf ihn ein sehr tiefer, belebender war. Ich machte einen Spaziergang ins Freie mit ihm und meine Bemerkung war die nämliche. Wie langsamer Nachklang einer zarten Saite erschien mir seine Seele. III. Mit dem Konfirmationstage kam Hauser auf einige Zeit aus meinen Händen und ich sah ihn seltener. Immer aber war er gegen mich der Freundliche und Zuvorkommende, der er während der Unterrichtszeit gewesen war. Im Monat November aber trat er auf den Wunsch Lord Stanhopes, welcher von einem sehr tüchtigen Manne dahier in ihm angeregt worden war, wieder zum Religionsunterricht bei mir ein. Nicht als ob Lord Stanhope, welchem von tüchtigen Leuten, die sich Hausers angenommen hatten, beständig Bericht über denselben erstattet wurde, mit seinen Fortschritten nicht zufrieden gewesen wäre, fand er es im allgemeinen sehr zweckmäßig, diese unmündige Seele auf dem religiösen Gebiete noch nicht sich allein zu überla**en, sondern sie noch tiefer in die Geheimnisse derselben einzuweihen. Um meine Ansicht darüber befragt, mußte ich natürlich beistimmen und war der Meinung, meinen wieder neu eingetretenen Schüler durch fleißiges Lesen und Erklären der Bibel zu diesem Ziele zu führen. Dabei wollte ich ihn aber auch mit der äußeren und inneren Geschichte der Religion vertraut machen und es war daher auch ein Abriß der Kirchengeschichte, der biblischen Einleitung, der einzelnen Symbole unserer Kirche notwendig. Deswegen wählte ich mir als Lehrbuch dazu: »Anleitung zu einem ausführlichen und gründlichen Unterricht in der christlichen Religion, nach den sechs Hauptstücken des lutherischen Katechismus für Jugendlehrer und Religionsfreunde bearbeitet von Ernst Christian Pfitzner, Pfarrer zu Neurode und Troßdorf im Herzogtume Gotha; Gotha und Erfurt 1824; in der Henningsschen Buchhandlung«, welches ich schon öfters mit großem Nutzen beim christlichen Religionsunterricht höherer Art gebraucht hatte. Bis zur dreizehnten Lehrstunde waren wir bereits vorgerückt und hatten in dem genannten Buche die Seiten 1 – 16 durchgegangen. Auf der 17. Seite, auf welcher unter anderem der Gleichnisse Erwähnung geschieht, in welchen Christus lehrte, weilten wir noch und lasen am 14. Dezember vorigen Jahres, dem letzten, verhängnisvollen Tage, welchen Hauser in meinem Hauser teilweise hinbrachte, das XXII. Kapitel des Evangeliums Matthäi vom 1. – 14. Verse, wo das Himmelreich in Beziehung auf die Berufung zu demselben mit einem Könige verglichen wird, der seinem Sohne Hochzeit macht und unter den Gästen einen findet, der das ihm gebotene Festkleid verschmäht hatte und darum als unpa**end zu den übrigen Erschienenen für unwürdig erklärt wird, in ihrer Gesellschaft zu sein. Vers für Vers betrachtete ich mit Hauser auf das ernsteste den berührten evangelischen Abschnitt und fand bei ihm, wie immer, wenn er in meinen Lehrstunden war, ungeteilte emsige Aufmerksamkeit. Doch sei es mir gestattet, ausführlicher über alles zu reden, was sich in dieser Zeit, die Hauser bei mir zubrachte, zugetragen hat; denn ich halte es für entscheidend im Urteil über seine Katastrophe. Am 14. Dezember v. Is. also kam Kaspar Hauser, es war an einem Sonnabend, morgens 8 ¼ Uhr zu mir, um wie gewöhnlich an diesem Tage seine Religionsstunde zu nehmen. Als er kam, war ich eben beschäftigt, meinen Tisch, an dem wir dieselbe hielten, abzuräumen. Ich hatte nämlich für meine Kinder einige Bilderbögen gekauft, deren Figuren ich ausgeschnitten und auf starkes Aktendeckelpapier aufgezogen, ferner auf kleine Hölzchen zum Aufstellen aufgeleimt hatte. Zu diesen Figuren nun wollte ich Kästchen von Pappendeckel machen. Hierzu mußte ich aber, weil sie zu den Weihnachtsgeschenken gehörten, welche bis zum Empfange unbekannt bleiben sollten, die Abendstunden wählen, wo die Kinder zu Bette lagen, und die Morgenstunden, wo sie noch schliefen. Daher fand mich denn auch Hauser am 14. Dezember, als er morgens kam, in der oben angegebenen Beschäftigung. Nach den gewöhnlichen Begrüßungen zeigte ich ihm ein bereits fertiges Kästchen und sagte: »Da sehen Sie, lieber Kaspar, wie sehr ich mich plagen muß; ich pappe hier Schachteln. Es kommt mir aber hart an, da ich, wie Sie schon aus der Form dieses Kästchens hier sehen werden, in Arbeiten der Art gar nicht erfahren bin.« Hauser betrachtete das Kästchen, lächelte, schüttelte den Kopf und meinte: »Ja, ich sehe es! Doch,« setzte er hinzu, »für das erstemal ist es doch nicht übel!« »Ja,« sagte ich zu ihm, »ich bin aber dennoch in einiger Verlegenheit. Meine Frau hat den Wunsch ausgesprochen, ein hübsches Pappendeckelkästchen zur Aufbewahrung ihrer Locken zu besitzen. Ich wäre bereit, ihr ein solches zu kaufen, wenn ich nicht wüßte, daß es, von mir selbst gearbeitet, doppelten Wert für sie hätte. Sie sehen aber selbst, lieber Kaspar, welche Figur aus meinen Händen hervorgehen wird.« Mit seiner angenehmen und bekannten Gefälligkeit antwortete mir Hauser auf der Stelle: »Da la**en Sie sich von mir helfen; ich kann es, denn ich habe es bei Schnerr in Nürnberg gelernt; ich will es Ihnen gleich zeigen!« »Jetzt nicht, lieber Kaspar«, sagte ich, »wir haben jetzt etwas wichtigeres zu tun; wir wollen unsere Religionsstunde halten.« Wie gewöhnlich, ohne die leiseste Widerrede, fügte sich Hauser, sprach sein Anfangsgebet und wir hielten unsere Stunde. Nicht die mindeste Zerstreutheit war hierbei bemerkbar, sehr aufmerksam hörte er mir zu, als ich ihm die oben angefühlte neutestamentalische Stelle erklärte. Um 9 ¼ Uhr schloß ich und Hauser ging, nachdem er sein Schlußgebet gesprochen, von mir weg und ich scherzte ihm nach, weil er von vielen Arbeiten sprach, die er noch auf dem Appellationsgerichte bei Herrn Inspektor Meyer habe: »So wünsche ich, daß Sie einmal Appellationsgerichtsrat werden; aber vorher müssen Sie mich noch in Papparbeiten unterrichten.« Er versprach, heute noch den Anfang damit zu machen, und gleich nach Tische wieder zu kommen. Noch hatte es nicht 1 Uhr geschlagen, als mein Kaspar schon wieder bei mir war. Ich war noch nicht auf meinem Zimmer. Bis ich kam, unterhielt er sich mit meinem ältesten Sohne, dem Gymnasialschüler Geißmann, und ich fand beide, als ich vom Mittagstische kam, in sehr heiterm Gespräche miteinander. Nun sollte es frisch an die Arbeit gehen, aber es waren noch keine Pappendeckel bei der Hand. Ich bot mich an, mit Kaspar fortzugehen und welche zu holen, sagte aber zu ihm, da ich zum Ausgehen noch nicht angezogen sei, könne er mir diesen Gang ersparen und die Pappendeckel bei der Kaufmannswitwe Loschge, welche nur 49 – 50 Schritte von meinem Hause entfernt wohnte, selbst aussuchen. Er war damit einverstanden, ging und kam eher, als ich es vermutete, mit zwei starken Pappendeckeln wieder zurück. Nun setzte er sich an den Tisch, zog sein Taschenmesser heraus und fing an, zuzuschneiden und zwar mit der rechten Hand, [Fußnote] immer dabei mich belehrend. Über dieser Arbeit wurde es nahe an 2 ½ Uhr. Ich sah auf die Uhr und sagte: »Lieber Kaspar, ich werde jetzt einen Augenblick in der Kirche nachsehen, ob sich niemand zur Kommunion bei mir angemeldet hat. Da es aber nicht schön Wetter ist, sondern, wie ich sehe, etwas schneit und regnet, so wird wohl niemand gekommen sein und ich werde daher recht bald wieder zurück sein. Arbeiten Sie unterdessen fort und la**en Sie sich die Zeit nicht zu lange werden.« »Ich gehe auch fort,« sagte er, und als ich ihn fragte, wohin, so antwortete er mit aller Unbefangenheit: »Zu Fräulein L. v. Stichaner, wo es wohl auch eine ähnliche Arbeit, ich glaube an einem Licht- oder Ofenschirm, geben wird. [Fußnote] Sie können aber (mir einige Handgriffe zeigend) schon allein fortarbeiten. Morgen nach Tische werde ich wieder kommen und weiter arbeiten. Ich la**e meine Sachen bei Ihnen liegen. Wenn Sie auch nicht zu Hause sind, so macht das gar nichts. La**en Sie mir nur Ihren Zimmerschlüssel zurück; die Frau Pfarrerin soll nicht erfahren, was ich mache.« »Gut«, sagte ich, »aber ich habe Ihnen die Pappendeckel noch nicht bezahlt; was kosten sie denn?« – »Die sind schon bezahlt,« sprach er darauf. Ich erwiderte ihm: »Allerdings, aber nicht von mir, und ich kann doch meiner Frau nicht eine Unwahrheit sagen, wenn ich ihr das Kästchen gebe; es kommt dann ja nur zum Teil von mir; ich will es ihr aber ganz gegeben haben!« Hauser sagte darauf mit seinem Lächeln, in welchem ich immer den Ausdruck der höchsten Liebenswürdigkeit fand: »Aber ich will auch dazu helfen; Sie können ja das der Frau Pfarrerin sagen!« Nach einigem Zögern willigte ich ein und wir schickten uns zum Fortgehen an. In diesem Augenblicke läutet es an meiner Gangtüre. Ich öffne, und eine arme Frau bittet mich um ein Almosen, weil sie gar kein Holz habe. Hauser bemerkt das, und ich sehe ihn, von mir weggekehrt, in seinem Geldbeutelchen suchen. Während ich der Armen eine Kleinigkeit reiche, gibt er ihr gleichfalls etwas und fragt mich leise: »Kennen Sie diese Frau, dann will ich ihr mehr geben!« Als ich ihm sagte, daß sie mir unbekannt sei, ließ er es bewenden. Heiteren Mutes gingen wir nun die Treppe hinab und als wir unten angekommen waren, sagte ich zu ihm: »Sie könnten jetzt durch meinen Garten gehen, dann wären Sie schneller bei Fräulein L. v. Stichaner. Indessen es ist da schmutzig und der Herr hat junge Beine, kann schon einen kleinen Umweg machen und mich noch ein Stückchen Wegs begleiten!« Herzlich lachend willigt Kaspar ein und wir gehen Arm in Arm fröhlich plaudernd bis an das Haus der genannten Witwe Loschge miteinander. Dort trennte uns der Weg. Kaspar ging gerade aus, schüttelte mir zum Abschied die Hand mit wahrhaft kindlicher Freundlichkeit, und ich bog links in die Ga**e ein, die zu meiner Kirche führt. Als ich dort kein Geschäft für mich fand, besuchte ich die unter meiner Aufsicht stehende Kleinkinderschule, traf dort mit der Wärterin einige Veranstalten zum heil. Christ für meine Kleinen und ging hierauf nach Hause, wo ich einige nötige Arbeiten besorgte. Während ich damit beschäftigt bin, stürzen zur einen Türe meines Zimmers meine Magd, zur andern meine älteste Tochter herein und rufen beide: »Wissen Sie es schon, der Hauser ist im Hofgarten erstochen worden!« »Im Hofgarten?« frage ich zweifelnd und erschrocken. »Ja, im Hofgarten,« erhalte ich zur Antwort, will es aber immer noch nicht glauben. Endlich (es war nahe an 5 Uhr) lege ich meine Arbeit beiseite, laufe mehr, als ich gehe, in das Haus des Schullehrers Meyer, welchem bekanntlich Hauser übergeben war und finde leider die mir gewordene traurige Nachricht bestätigt. Drei Ärzte waren daselbst, ferner eine Stadtgerichts- und eine Polizeikommission. Meine erste Frage war nach der Gefährlichkeit der Wunde, und die Antwort, die ich erhielt, war, die Wunde sei zwar nicht tief, indessen könne man über ihre Gefährlichkeit noch kein bestimmtes Urteil fällen. Es ist aber hier zu bemerken, daß bis zur Ankunft jener Herren Ärzte die sehr tiefe und absolut tödliche Wunde sich wahrscheinlich von innen geschlossen hatte, weswegen sie mit der Sonde nicht mehr genau untersucht werden konnte. Indessen ging ich in Kaspars Zimmer. Aber wie erschrak ich über ihn. Bleich, entstellt, ein Bild des Schreckens lag er in seinem Bette, das Gesicht gegen die Wand gekehrt. Ich schleiche zu ihm, und als er sich wendet und mich starr ansieht, sage ich zu ihm: »Kaspar, lieber Kaspar, was ist Ihnen geschehen? Ach! wie find ich Sie!« Kaspar, ohne den Blick zu wenden, ruft ängstlich mit äußerst gedämpfter Stimme: »Herr Meyer, Herr Meyer!« »Kaspar, lieber Kaspar,« wiederhole ich, »kennen Sie mich denn nicht? Ich bin ja nicht der Herr Meyer, ich bin Fuhrmann, Ihr Lehrer, Ihr Freund, bei dem Sie ja erst vor ein paar Stunden so froh und zufrieden gewesen sind!« »Herr Meyer, Herr Meyer,« wiederholte, mit dem Stöhnen eines Sterbenden, Kaspar und setzt hinzu: »Die Mutter soll kommen, die Mutter soll kommen, die Mutter!« Diese Worte sprach er mit der größten Hast und, wie seine Gebärden zeigten, ohne ihren Sinn zu wissen. Auf meine Frage, wen er denn unter der Mutter meine, zeigte man mir die Frau des Herrn Polizeikommissar K., Herrn Meyers würdige Schwiegermutter, welche im Zimmer war, und an welche, weil sie seiner in Verbindung mit der Familie Meyer immer so liebreich und teilnehmend gepflegt hatte, Kaspar eine wahrhaft kindliche Anhänglichkeit hatte. Frau K. trat nun an Hausers Bette, beugte sich mit aller Liebe einer Mutter über ihn hin und fragte ihn auf das zärtlichste: »Was wollen Sie denn, lieber Hauser, was fehlt Ihnen denn?« »Die Mutter soll kommen! die Mutter!« und ein sehr ängstliches Stöhnen war die Antwort. Gleich darauf legte er sich wieder auf die Seite und schien zu schlummern, ich aber verließ sein Zimmer und ging in ein anderes, wo ich den seidenen Beutel, auf den Hauser nach den Äußerungen der Anwesenden so viel Gewicht legte, sah, und die auf ein darin gelegenes Duodezblättchen seines Schreibpapier von der Rechten zur Linken mit Bleistift geschriebenen Zeilen las, die wörtlich also lauteten: »Hauser wird es euch ganz genau erzählen können, wie ich aussehe und woher ich bin. Denn [Fußnote] Hauser die Mühe zu ersparen, will ich es euch selber sagen, woher ich komme – – – Ich komme von – – der bayerischen Grenze – – – Am Flusse – – – Ich will euch [noch] sogar meinen [den] Namen sagen: M. L. O[Oe].« Da ich nun noch nichts Genaueres über den Hergang der Sache wußte, so erkundigte ich mich, nachdem ich den Brief gelesen, nach dem Zusammenhang der Umstände und erfuhr folgendes: Hauser stürzte, als eben Herr Meyer im Zimmer bei seiner Gattin stand, welche gerade in einem für jeden Schrecken ungeeigneten Zustande sich befand, mit starr geöffneten Augen atemlos herein, die Arme nach seinem Pfleger ausstreckend, der nicht wußte, ob er die einer Ohnmacht nahe Gattin oder seinen wie einen Wahnsinnigen sich gebärdenden Pflegling zuerst ansehen sollte. Mit Schrecken und dem Ausrufe des Entsetzens bemerkte Herr Meyer alsbald, daß Hauser unterhalb des Herzens blute und einen Stich habe. Auf das angelegentlichste und eindringlichste fragte er ihn, wo ihm denn das geschehen sei. Aber statt aller Antwort deutete Hauser durch Zeichen an, daß er nicht imstande sei, zu sprechen, faßte Herrn Meyer hastig beim Arm und zog ihn mit heftiger Gewalt mit sich fort, die Stiege hinunter, zum Hause hinaus durch die Reitbahn und das Schloß. Da er noch so schnell zu gehen vermochte und sonst nicht kraftlos erschien, so glaubte Herr Meyer nicht, daß es Gefahr mit ihm habe. Unterwegs fragte er ihn oft, wo denn seine Verwundung geschehen sei, konnte aber keine Antwort aus ihm herausbringen, da er nach allen Zeichen nicht sprechen konnte, sondern nur immer weiter zu gehen verlangte. Herr Meyer gibt mit Mühe nach, und als sie an die außerhalb des Schlosses auf dem Schloßplatz gelegene sogenannte offene Reitschule kommen, fragt Herr Meyer, Unsicherheit an Hausers Gang bemerkend: »War's vielleicht im Hofgarten?« und kehrte, als Hauser es durch deutliche Zeichen bejahte, mit ihm um. Auf dem Rückwege fing Hauser an, in abgebrochenen Worten zu sprechen, woraus man abnehmen konnte, daß ihm ein großer Mann im Mantel mit schwarzem Schnurr- und Backenbart beim Uzschen Denkmal einen Beutel gegeben und einen Stich versetzt habe, und daß er den Beutel habe fallen la**en. Bei den letzten Worten wollte er wieder umkehren und den Beutel holen. Herr Meyer gab das aber nicht zu, sondern brachte unter dem Versprechen, der Beutel sollte geholt werden, den Verwundeten nach Hause, wo er auch sogleich zu Bette gebracht wurde. Ärzte, Polizei, Stadtgericht wurden nun von der Sache in Kenntnis gesetzt und nach dem Beutel sogleich fortgeschickt, den man auch am Fuße des Uzschen Denkmals wirklich vorfand. Dieser Beutel, länglich-viereckig, ist ohne besondere Kunst aus lilablauem Seidenzeug zusammengenäht und mit weißem Seidenzeug gefüttert, hat oben einen Zug, durch welchen zwei Schnürchen gezogen sind. Darin nun fand sich das oben angegebene Briefchen oder vielmehr Zettelchen. Mit dem Beutel selbst verhielt es sich etwa so: Während Hauser, der nach seiner Angabe von einem ihm unbekannten Fremden, allen Umständen nach bei schwerem Verbot, etwas davon zu entdecken, an das Uzsche Denkmal vielleicht unter dem Vorwande bestellt war, daß ihm nun sein ganzes Schicksal bekannt gemacht und alle Aufschlüsse, nach denen er sich sehnte, gegeben würden, den fraglichen Beutel, welchen der Fremde fallen ließ, aufheben wollte, erhielt er zwischen die sechste und siebente Rippe auf der linken Seite einen Stich, der, wie die Sektion auswies, äußerst gefährlich, der absolut tödlich war. Ob Hauser nach seiner Verwundung stürzte und einige Zeit bewußtlos auf dem Boden lag, oder ob er sogleich in einer Art von Todesangst nach Hause rannte, konnte ich nicht ermitteln. Genug, er kam zu Hause an, wie wir aus dem bereits Erzählten wissen. In derselben Nacht soll er auch die Besorgnis geäußert haben, er werde wohl sterben müssen, was er sich indessen wieder ausreden ließ. Am folgenden Tage war er bei sich, aber stark mit Gelbsucht befallen und unfähig, ein Gespräch oder einen Gedanken lange fortzuführen. Er bekam häufige Schwächen. Am Montag, am 16. Dezember, war ich mittags zwischen 12 und 1 Uhr bei ihm, fand ihn sehr gelbsüchtig aber heiter, wenn er gleich sehr kurz und schwer atmete und über Schmerzen in der linken Seite klagte. Er sprach mit mir, meinte, es gehe ihm jetzt besser und hörte es gerne, als ich ihm bemerkte, wenn er wieder gesund sei, mich ja zu besuchen und mit seiner Kunst zu unterstützen, ja er gab mir sogar einige belehrende Winke, wie ich unterdessen allein in unserer unterbrochenen Arbeit fortfahren könnte. Da ich indessen doch bemerkte, daß ihm das viele Sprechen wehe tue, entfernte ich mich, ihm ein christlich-ergebenes aufrichtiges Gebet zu dem himmlischen Vater empfehlend, der es gewiß bald wieder gut mit ihm machen werde. Da ich Kasparn so auf dem Wege einer schnell fortschreitenden Besserung wähnte, glaubte ich, er werde nun nur der Erholung wegen noch einige Tage das Bett hüten müssen, und nahm mir vor, am nächsten Tage, am 17. Dezember, ihm einen Abendbesuch zu machen, um ihm ein paar Stunden durch Unterhaltung zu verkürzen und dadurch auch die Nacht ihm weniger lang zu machen. Ich aß zu dem Ende mit meiner Familie, der ich meinen Entschluß bekannt gemacht hatte, nach sieben Uhr zu Abend und stand mit den Worten vom Tische auf: »Nun will ich mich anziehen und sehen, was mein Kaspar macht.« Eben nehme ich den Hut vom Nagel, da pocht es gewaltig an meiner Stubentüre, und atemlos tritt Herrn Meyers Magd herein mit den Worten: »Sie möchten so schleunigst als möglich zu Herrn Hauser kommen; er stirbt!« Man kann sich denken, daß ich nicht zögerte. Ich lief trotz Sturm und Regen und Finsternis, es war gegen acht Uhr des Abends, durch die Straßen und kam auch wirklich eher als die mich rufende Magd in Hausers Wohnung an. Um mich vorher nach dem Zustande des Patienten zu erkundigen, ging ich in Herrn Meyers Wohnung und fand nebst dem Gerichtskommissär drei Ärzte daselbst, welche auf meine Fragen nach Hauser mir antworteten, daß er Mitternacht nicht überleben werde; diesen Nachmittag sei er schon von einem Starrkrampf überfallen worden, jetzt aber sei bereits partielle Kälte und schon Todesschweiß, auch Delirien eingetreten; ich sei jetzt notwendiger als sie und möge eilen, ihm noch eine Labung auf dem letzten Wege zu geben. Ohne weitere Zögerung ging ich denn auch an das Sterbebette, auf dem der arme Kaspar nach so kurzem Leben, ohne daß der Schleier desselben sich auch nur im mindesten lüftete, schon nach zwei Stunden seinen Geist ausgehaucht hatte. IV. Wehmut, Ernst, Entsetzen waren die Gefühle, welche mich beim Anblick des stillen, ergebenen Dulders bewegten; ich hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten und einen kurzen stillen Kampf mit mir selbst zu bestehen, ehe ich mich dem Sterbenden näherte, um ihm die Tröstungen der Religion darzubringen. Er schlummerte gerade, wachte aber in dem Augenblicke auf, als ich mich seinem Bette näherte. »Guten Abend, lieber Kaspar,« sagte ich, seine Hand fa**end, die matt und kalt in der meinigen lag, »wie geht es Ihnen denn? Sie sind wohl recht krank? Ihr Lehrer und Freund steht vor Ihnen, dem Ihre Leiden recht nahe gehen; wie ist denn Ihr Befinden? wie fühlen Sie sich denn?« »Wohl!« erwiderte er mir, »ich habe keine Schmerzen, aber meine Glieder werden mir so schwer, ich bin sehr müde!« Nach diesen Worten schloß er die Augen etwas, öffnete sie aber bald wieder. Da fragte ich ihn: »Wollen Sie nicht beten, lieber Kaspar?« »Ich kann nicht beten!« antwortete er, und als ich ihn nach der Ursache fragte, so sagte er: »Ich bin so matt – kann nicht sprechen – die Gedanken vergehen mir gleich!« – – »Nun,« sprach ich zu ihm, »so will ich mit Ihnen beten oder vielmehr, ich will ein Gebet laut sprechen, was auf Ihre Lage paßt, und Sie können das dann im stillen mitsprechen.« Da ihm das recht war, so faltete ich die Hände. Alle Umstehenden taten es mit. Hauser aber erhob, so schwer es ihm ankam, die seinigen. Tiefe Stille herrschte unter allen Umstehenden und ich sprach im Namen Hausers etwa folgendes: »Gott, Vater in Jesu Christo, den ich auch als meinen Vater kennen gelernt habe, zu dir, der du in der Schule der Prüfung mich frühe schon geübt, aber immer treu und väterlich beschützt hast, zu dir wende ich mich nun in diesen ernsten Augenblicken. Dich bitte ich, verlaß mich mit deinem Troste nicht, und wie du deinen Engel einst meinem Heilande in seiner bangsten Stunde gesendet hast, so sende ihn jetzt mir. Dunkel wird es um mich, immer dunkler, ach laß das Licht deiner Gnade leuchten. Vergib dem sündigen Menschen, der jetzt so dringend zu dir flehet. Gib mir Kraft, damit ich christlich trage, was du mir auferlegt hast. Nimm dich meiner Seele an und erfülle das Wort an mir: Nahet euch zu mir, so seid ihr selig aller Welt Ende! Jesus Christus, der du so liebevoll rufest: Kommet zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken, erquicke auch mich, denn ich komme zu dir! Amen.« – »Amen!« wiederholte Hauser und legte sich auf meine Frage, ob er etwa müde oder erschöpft sei, mit einem stillen »Ja« auf die rechte Seite, und schlummerte etwas ein. Bald erwachte er mit dem Begehren nach Wa**er, welches ihm auch sogleich gereicht wurde. Nun nahte ich mich ihm wieder und sagte: »Lieber Hauser, wie ist denn der Zustand Ihres Gemüts; sind Sie denn auch innerlich recht ruhig, drückt Sie kein Anliegen, wofür Sie Erleichterung wünschen?« – »Warum,« sagte er, »soll ich denn unruhig sein, ich habe ja alle Leute, die ich kenne, um Verzeihung gebeten. Der liebe Gott wird mich gewiß nicht verla**en.« – »Nein,« antwortete ich darauf, »das wird der liebe Gott nicht, er wird sich freuen über Ihren christlichen demutsvollen Sinn, dessen Äußerungen ich, als Ihr Religionslehrer, mit großem Vergnügen vernehme. Aber ich muß Sie doch auch darauf aufmerksam machen, daß Christus, unser Herr, auch fordert, daß wir unsern Mitmenschen vergeben, und ich frage Sie deswegen in diesem ernsten Augenblicke, ob Sie auf niemanden in dieser Welt zürnen, ob Sie keinen Groll auf jemand im Herzen haben?« – »Warum sollte ich,« sprach er hier, »Groll oder Zorn haben, da mir niemand etwas getan hat!« – Das ist nun eine Äußerung Hausers, aus welcher der Zweifel an seiner Redlichkeit Gift über Gift saugt. Mir aber, der ich sie in Zusammenhang mit Hausers ganzem inneren Leben, wie ich es kennen gelernt habe, bringe, mir, der ich die Stunde, in der er es sagte, genauer ins Auge fa**e, fällt es nicht ein, in dieser Äußerung etwas Verdächtiges zu finden, und es sind nach meiner Meinung und Beobachtung nur drei Gesichtspunkte möglich, aus denen sie betrachtet werden kann. Den ersten gibt Hausers außerordentliche Gutmütigkeit an die Hand, die vielleicht von dem Mörder gar nicht sprechen und lieber die Aufmerksamkeit von ihm wegwenden wollte. Den andern Grund finde ich darin, daß Hauser diese seine Worte in Zusammenhang mit den kurz zuvor von ihm gesprochenen brachte und sie auf seine Bekannten bezog. Der dritte Grund liegt in dem Augenblick des Sterbens. Hauser hatte da keine Erdensorge mehr, sein Gemüt war mit dem Himmlischen allzu sehr beschäftigt, das Irdische war vergessen wie seine Wunde, von der er keinen Schmerz mehr empfand. Seine Seele hatte sich bereits über das Zeitliche erhoben. Dies ist mir das allerwahrscheinlichste. Da ich etwas unpäßlich war, so wirkte die Luft des kleinen, ziemlich mit Leuten angefüllten Zimmers auf einmal sehr widerlich auf mich, und ich glaubte mich umso eher einige Augenblicke entfernen zu können, weil Hauser eingeschlummert war. Als ich wieder zurück kam, schlummerte er noch, wachte aber alsbald auf, indem er ungefähr folgende Worte sprach: »Ach, diesen Kampf kann der Mensch nicht allein bestehen, er ist sehr schwer!« Ich entgegnete ihm: »Getrost, mein lieber Freund, und nach oben gesehen, dort wohnt ja der gute himmlische Vater, zu dem wir vorhin miteinander gebetet haben; der hilft sicherlich, denn er sagt nicht umsonst ›Fürchte dich nicht, denn ich bin mit dir, weiche nicht, denn ich bin dein Gott.‹ Halten Sie nur fest an seinen Wegen und vertrauen Sie sich ihm recht herzlich an.« Nach einiger Pause sagte Hauser, nachdem er wiederholt von einer weiten Reise, die er zu machen habe, gesprochen hatte: »Ja, das ist der rechte Weg, den ich nicht verla**en will.« Hierauf trat Herr Meyer an sein Bette, faßte seine Hand und fragte im freundlichsten Tone: »Lieber Häuser, haben Sie nichts mehr zu sagen?« und Hausers Antwort waren die herzlichsten Danksagungen an ihn und seine Gattin. Bald sagte er, von einigen Delirien unterbrochen: »Ach, das sind dunkle Wege, die Wege Gottes!« – »Aber,« erwiderte ich, »Sie halten sie doch für Wege der Liebe und Gnade?« Ein festes »Ja« war seine Antwort. Da er öfters die Hände faltete, so sagte ich ihm häufige Trostsprüche, die ich aber durchaus nicht mehr alle wörtlich aufführen kann. Unter anderen sagte ich das Gebet Jesu: »Vater, nicht mein Wille geschehe, sondern der deinige.« Als Hauser dieses wiederholte, so fragte ich ihn: »Wer hat dieses gesprochen?« – »Der liebe Gott, Jesus Christus vor seinem Sterben!« – »Nun wohl,« sagte ich darauf, »sei es auch Ihr Gebet jetzt, mein Lieber!« Da war es nahe an 10 Uhr geworden und Hauser, dem man fortwährend den Todesschweiß abtrocknen mußte, wurde immer schwächer, so schwach, daß er nichts Zusammenhängendes mehr reden und verstehen konnte. Glied für Glied starb langsam an ihm ab. Gerade als es 10 Uhr schlug, tat er den letzten Atemzug. Keine abschreckenden Gesichtsverzerrungen, keine Verdrehung der Augen und Glieder, wie man sie öfters an Sterbenden sieht, waren an ihm wahrzunehmen, nur einen äußerst schmerzhaften Zug an seinem Munde glaubte ich zu bemerken. So sah ich ihn auch am folgenden Tage, die noch heftiger ausgebrochene Gelbsucht abgerechnet, ganz unentstellt. Am 19. Dezember wurde die Sektion [Fußnote] vorgenommen, welche freilich eine entsetzliche Wunde sehen ließ. Sie ging von oben nach unten in schiefer Richtung und muß mit großer Gewalt beigebracht worden sein, denn sie war tief in den Körper eingedrungen, hatte den Herzbeutel durchstochen, das Herz unten an der Spitze geritzt, war durch die ungewöhnlich große Leber gedrungen und hatte auch den Magen durchschnitten. Es ist zu verwundern, wie Hauser mit dieser schrecklichen Verwundung noch einen Weg von einigen tausend Schritten machen konnte und daß er nicht mehr Schmerzen und Beängstigungen hatte, da die Wunde nach innen entsetzlich blutete und aus dem zerschnittenen Magen die Speisen in den hohlen Leib gedrungen waren. Daraus mag sich denn aber auch der Umstand erklären, daß er so häufig, besonders wenn er mit Sprechen oder Nachdenken angestrengt wurde, plötzlich erklären mußte, er könne nun nicht mehr, man möge ihn in Ruhe la**en. Man willfahrte ihm natürlich immer, aber es wäre zu wünschen, er möchte stärker gewesen sein, damit sein so schreckliches Geheimnis entschleiert und der Gerechtigkeit der Weg zur Erreichung des Mörders geöffnet werden möge, über welchen alle teilnahmsvollen Gemüter auf das äußerste erbittert sind. Die Sektion bot aber auch einem unserer hiesigen Ärzte, der dabei anwesend war, Stoff zu Untersuchungen über Hausers innere Körperorganisation, sowie zu Nachforschungen nach Spuren über Hausers früheren Zustand dar und bestätigte dessen Angaben durch die größte Wahrscheinlichkeit. In das Journal für Chirurgie und Augenheilkunde von Gräffe und Walter, welches bei Reimer in Berlin erscheint, wird demnächst hierüber im 1. Heft des 21. Bandes ein Aufsatz von jenem Arzte unter dem Titel »Kaspar Hausers Verwundung, Krankheit und Leichenöffnung« eingerückt werden, der sich über die Sache weiter verbreitet, als es in diesen Bogen geschehen kann, und der, da er noch besonders abgedruckt wird, auch dem nichtärztlichen Publikum zugänglich ist und allgemeine Beachtung verdient. [Fußnote] Wenn ich oben sagte, daß Hausers geistige Anlagen nur dann richtig gewürdigt werden können, wenn man sie aus dem doppelten Standpunkt seiner frühen Einkerkerung und der dadurch gestörten regelmäßigen Körperentwicklung beurteile, so muß die letztere hergestellt und die erstere durch dieselbe bewiesen werden. Das tut nun jener oben erwähnte Arzt mit größter Evidenz und seine Beobachtungen in dieser Beziehung sind in der Kürze folgende: Hausers Lunge ist klein und beweist, daß sie mit keinem großen Maße äußerer Luft zu kämpfen hatte, sondern daß ihre Funktion nur auf sehr beschränkte Weise in Anspruch genommen worden sein muß. Die Leber war ungewöhnlich breit und groß, wie man sie auch bei Tieren findet, denen man die Gelegenheit zur freien Bewegung benommen hat, und spricht für die lange enge Einkerkerung Hausers. Die Galle war zähe und schwärzlich, eine Folge des früheren langen Genusses von Kohlenstoff haltenden Vegetabilien, z. B. trockenen Brotes. Die Kleinheit und Roheit des Gehirns im allgemeinen, die relativ geringe Ma**e des großen und bedeutende Größe des kleinen Gehirns deuten nächst den gröberen und größeren Windungen an der Oberfläche der Kopfhöhle auf sehr mangelhafte Entwicklung des Hirns. Die geistige Entwicklung Hausers war aber nicht sowohl durch mangelhafte Bildung des Hirnorgans gehemmt, sondern das Organ blieb in seiner Entwicklung durch Mangel aller früheren geistigen Tätigkeit und Erregung zurück und erlangte seine Reife und materielle Entwicklung nicht, welche bis zum siebten Lebensjahre als demjenigen, wo sie nach dem Naturgesetz gefordert werden kann, erfolgt ist. In diesem unvollkommenen Zustande wurde es bei der Leichenöffnung vorgefunden, was als genügender Beweis gelten kann, daß Hauser geraume Zeit sich in einem Zustande befand, welcher die Gehirnentwicklung hemmte und aufhielt, so daß er auf einer niederen Bildungsstufe zurückbleiben mußte. Aus diesem Umstande erklärt sich auch die Erscheinung, daß Hauser im Anfang sehr rasche, dann aber unverhältnismäßig langsamere Fortschritte machte, eine Tatsache, die ihn demnach bei manchen, welche mehr in ihm erwarteten als sich zeigte, ohne allen Grund in einem üblen Lichte erscheinen ließ. Daraus möge ferner entnommen werden, ob ihm so viel geistige Kraft zugetraut werden konnte, daß er, einem mit innern Widersprüchen angefüllten Aufsatze in den Blättern für literarische Unterhaltung zufolge [Fußnote] sich selbst gemordet und fünf Jahre lang die tüchtigsten Männer am Irrseile herumgeführt haben soll. Am 29. Dezember war der Begräbnistag des in jeder Beziehung Unglücklichen; es war ein Tag allgemeiner Teilnahme. Einfach, aber würdig und anständig war die Leichenfeier angeordnet. Tausende von Menschen, kann man ohne Übertreibung sagen, waren auf dem Kirchhofe anwesend und drängten sich an das Grab. Langsam fuhr unter feierlichem Glockengeläute der Trauerwagen mit der irdischen Hülle des Verstorbenen daher, um sie zu ihrer Ruhestätte zu bringen. Aus der Ferne und Nähe wurden Blumen als letzter Beweis christlicher Liebe und Zärtlichkeit gespendet, welche zum Teil den Leichnam im Sarge zierten, zum Teil von freundlicher Hand in das Grab gestreut wurden. Wer aber die Tränen zählen wollte, welche gefühlvollen Herzen bei den Einsegnungsworten, die über die eingesenkte Leiche gesprochen wurden, entquollen, der würde das Unmögliche unternehmen. Ebenso entschieden sprach sich die Teilnahme bei der am Altar der Gottesackerkirche gehaltenen Trauerrede aus. Hauser ist zwar begraben, aber sein selbst noch Ungewisser Name lebt noch in der Welt und die Erinnerung an die traurige Katastrophe, welche den armen Jüngling unserer Mitte entriß, ja das Andenken an dieselbe spricht sich mit solcher Lebendigkeit aus, daß fast kein Zeitungsblatt erscheint, welches nicht eine Nachricht über ihn und sein trauriges Ende enthielte. Zu bedauern ist nur, daß viele sprechen, ohne Hauser im Leben gekannt zu haben, daß manche unter ihnen mit heftiger Leidenschaft unbegründete Urteile gegen den Bedauernswerten aussprechen, manche wiederum auf Kosten der Wahrheit die ganze Begebenheit in ein allzuromantisches Gewand kleiden, wodurch sie das unbefangene Urteil irreführen und dem guten Hauser, indem sie für ihn entschiedene Partei nehmen, weniger nützlich sind als sie wollen. Noch ist keine Spur des Verbrechens, von welchem sich der Genius der Menschheit mit Entsetzen abwendet, mit Bestimmtheit entdeckt. Vielleicht wird das Menschengefühl und die Rechtsliebe noch lange darauf warten müssen. Über es ist kein Faden so klar gesponnen, er kommt doch endlich an die Sonne, sagt ein altes Sprichwort. Es lebt ein Gott, sagt der Christ, der väterlich alles leitet, dessen Pläne wir anfangs gar oft nicht verstehen, aber später oft in diesem Erdenleben noch mit reumütigem Danke preisen müssen, im Jenseits desto herrlicher erkennen werden, und der zur rechten Zeit alles Verborgene enthüllt. Vielleicht wird auch uns noch Licht über die bis jetzt in das schwärzeste Dunkel gehüllte Begebenheit. Dann, Menschheit, preise den Herrn! Gedenkstein für Hauser im Hofgarten zu Ansbach