Man geht zur Lesung mit eiligen Schritten. Die Andacht, die sich um den Lesenden senkt, sobald die ersten Worte erklingen, sie darf man nicht stören. Diese Worte dann schneiden ins eigene Fleisch, wozu sonst hätte man sich beeilt, wenn nicht dazu, mindestens etwas, wenigstens den Schmerz zu fühlen, oder die Lust, die Verzweiflung oder vielleicht auch das Glück, das in den Sätzen liegt. Was aber, schlimm, wenn es nichts zu hören gab, der Stuhl unbequem, die Sicht schlecht und die Luft zum Ersticken war. Man konnte nie sicher sein, was geschah. Eben hätte sie aussteigen müssen, doch die Bahn fuhr schon wieder an. Als ob davon etwas, Rettung, zu erwarten wäre, sah sie sich um. Kaum ein Platz war besetzt. Niemand nahm Anteil. Ihr gegenüber saß ein Mann mittleren Alters, wie absichtlich nachlässig angezogen, mit Sonnenbrille und Hut. Regungslos lehnte er am Fenster, als schliefe er. Sie konnte sich kein rechtes Bild machen. Draußen dämmerte es, die Laternen leuchteten dumpf, müdes Licht der Stadt. Wie spät ist es, fragte der Mann so unvermittelt, wie sich ein Toter in seinem Sarg aufrichtet. Sie las die Zeit vom Handgelenk ab, ohne da** es sie anging. Dann ist es wohl leider endgültig zu spät, bemerkte er und es war, als ob er aufatmete. Er streckte sich wie nach langem Schlaf, nahm die Sonnenbrille ab und steckte sie sich in die Hemdtasche. Den Hut drehte er unablässig lächelnd zwischen den Händen. Und die Augen blitzten sie listig an. Ja, ich bin auch zu spät dran, sagte sie, es wäre immerhin möglich, da** ich noch rechtzeitig ankomme, wenn ich jetzt gleich aussteige, aber dann müsste ich rennen, und ich ha**e nichts mehr als das. Rennen ist erniedrigend, wenn es aus purer Not pa**iert. Überrascht von der eigenen Redseligkeit, fügte sie hinzu: Man ist außer Atem, wenn man ankommt, das Herz klopft wie verrückt, man ist ganz Puls, und dann soll man sich still hinsetzen und zuhören. Man fühlt sich so lebendig, was will man da mit Literatur. Ja, was will man damit. Eine irrsinnige Frage, du bist dem Schreiben ausgeliefert oder nicht, du bist ihm verfallen oder nicht. Es lässt dir keine Wahl, wenn du ihm gehörst, gehörst du ihm ganz. Als hätte auch er zu viel gesagt, wandte er sich ab und starrte aus dem Fenster in sein Spiegelbild. Warum ist der denn so missmutig, dachte sie, kein Grund, gleich fatalistisch zu werden. Es ist doch bloß eine blöde Lesung. Jeder verpa**te mal einen Termin. Es gab diese Tage, an denen einem alles, und gerade das Beste, zu viel war. Vielleicht war das Leben auch nur eine Pause, die man überbrücken musste. Harter Tag?, fragte sie an der nächsten Haltestelle. Er antwortete: Weicher Tag, widerlich weicher Tag, wie Teig, geschmolzene bu*ter, ranzig, unbrauchbar, ein nervöser Tag, schmierige Stunden, wacklige Knie. Nichts gearbeitet, nicht einen klaren Gedanken gefa**t, kein gerader Satz, nichts. Die Aufregung hat mich von allem abgehalten. Und noch zuletzt davor, überhaupt zu erscheinen. Das wird mir schaden, sicher, doch was könnte mir mehr schaden als diese Verwirrung, in die mich all das stürzt, all die widerlichen Forderungen, die man an mich stellt. Er beulte den Hut aus, den er während der Rede zerdrückt hatte. Und wohin fährst du jetzt?, fragte sie weiter. Das spielt keine Rolle, hier ist Ende. Und tatsächlich kam die Bahn jetzt zum Stillstand, sie waren unbemerkt am Stadtrand angekommen, die Menschen stiegen eilig aus, ohne den Blick vom Boden aufzuheben. Als der Fahrer zum zweiten Mal Endstation brüllte, machten auch sie sich davon. Die Bahn verschwand in endloser Dunkelheit. Wohin gehen wir, fragte er, hier können wir kaum bleiben, der Wind wird uns zermürben, er ist kalt und ohne Erbarmen. Er hatte den Hut und die Sonnenbrille wieder aufgesetzt. Jetzt bekam sie Lust, ihn einfach stehen zu la**en. Eine komische Type. Sie wäre besser zu der Lesung gegangen, da saß man wenigstens im Warmen und konnte abschalten. Andererseits: Wann hatte sie das letzte Mal jemanden so überraschend kennengelernt, mehr als das Übliche mit jemanden gesprochen, das pa**ierte ja irgendwann im Leben nicht mehr. Und wenn auch nur eine kleine Geschichte dabei heraussprang, die man dann bei pa**ender Gelegenheit erzählen konnte, das wäre schon etwas. Während sie noch so am Überlegen war, schrieb er murmelnd etwas in ein kleines Notizbuch. Als sie ihn ansprach, verstummte er und steckte das Heft in die Hemdtasche. Sie verständigten sich darauf, zurück in die Stadt zu laufen. Der Vorort war schon nahezu menschenleer, die Straßen schienen für niemanden gebaut, die Verkehrslichter eher symbolisch gemeint. Wer jetzt nicht in seinem Haus war, würde sich ewig rumtreiben. Nach wenigen Minuten schien er viel besserer Laune, überhaupt wurde er übermütig, balancierte plötzlich wie ein Kind auf einer niedrigen Mauer, rannte lachend voraus und stahl ihr zu allem Überfluss eine Rose aus dem Vorgarten. Es war schwer, sich darauf einen Reim zu machen. Sie nahm die Rose mit spitzen Fingern entgegen. Und noch ehe sie wusste, was geschah, war Paul schon im Gebüsch hinterm Supermarkt verschwunden. Da stand sie nun vor dem Gebüsch und wusste auch nicht. Komm schon, rief es. Für wie blöd hielt der sie denn? Du hast den Wein und das Futter ja gar nicht angerührt. Ach so, sagte sie sich, der ist einfach nur irre, das ist alles. Sie legte die Rose auf den Gehweg und wollte schon die Straße überqueren, als ein grauer Mann im Anzug aus den Sträuchern stolperte; im Arm hielt er eine verdrießlich dreinsehende Katze. Es ist zu spät, ich verschwinde, la** mich in Frieden, schrie er, und schüttelte sich das Laub aus dem Haar. Jetzt kam auch Paul wieder zum Vorschein und versuchte, den Alten zu beruhigen. Du erschreckst meine Freundin, sagte er, und machte eine Kopfbewegung in Karos Richtung. Der Alte nahm augenblicklich Haltung an, strich sich über das prächtig zerknitterte Jackett, und eilte schon auf sie zu. Sie war zu baff, als da** sie hätte weglaufen können. Die Katze protestierte gegen die Umarmung, Karo ließ es still geschehen, was hätte sie auch tun sollen, das war wie bei Wespen, wenn sie Angst rochen, wurden sie nur noch aggressiver. Wo sind deine Manieren, willst du uns nicht zum Essen einladen, rief er zu Paul hinüber, als er sich bei ihr eingehakt hatte. Mögen Sie Sauerkraut. Ich auch nicht, das Geheimnis ist, es muss frisch sein, hat er schon einmal für Sie gekocht, ein unmöglicher Kerl, kochen aber kann der, oder zumindest schmeckt es, und der Katze auch, nur nicht das Grünzeug, das lässt sie mir immer übrig, undankbares Vieh, aber so geht es im Leben. Ihnen ist doch nicht kalt, das ist die Jugend, wenn man erst so alt ist wie ich, ist man für so ziemlich alles, was man noch irgendwie empfindet, dankbar. Während Karo weiter die Worte um die Ohren flogen, führte der Alte sie in ein Gasthaus an der Hauptstraße. Drinnen lag das Licht müde hingestreckt über das abgegriffne Mobiliar und die paar Gäste am Tresen. Sie setzten sich an einen grotesk großen Tisch im hinteren Winkel des Raumes. Der Wirt wischte sich die Hände an der Schürze ab und brachte ihnen widerwillig die Speisekarte. Als er die Katze bemerkte und die Gäste daraufhin näher in Augenschein nahm, zögerte er für einen Augenblick, dann hatte er sich auch schon mit allem abgefunden und bot sogar an, einen Napf für das Tier bereitzustellen, was der Alte mit einer Suade über den Unterschied von Hund und Katze beantwortete und schließlich negativ beschied. Die Betrunkenen am Tresen hatten sich zu der Gesellschaft herumgedreht und wiesen sich brabbelnd gegenseitig immer wieder auf das Tier und die merkwürdigen Gäste hin, und grunzten ein wenig und schlugen sich auf die Schultern. Dann glarten sie nur noch über die Gläser hinweg rüber und waren selig. Der Alte hatte Weißwein, Sauerkraut und Würstchen für alle bestellt. Jetzt hast du ja wieder Appetit, bemerkte Paul, als der Alte sich über seinen Teller hermachte. Es ist unhöflich, bei Tisch nicht zu essen, brachte er mit vollem Mund hervor. Der Katze schüttete er eine kleine Lache Weißwein auf den Boden und krümelte noch ein paar Stückchen Wurst hinein. Aber irgendetwas hat dich doch aufgeregt, beharrte Paul. Karo aß zunächst langsam, sie wusste nicht recht, ob es ihr behagte und schmeckte, aß dann aber nicht ohne Genuss. Immer wieder warf Paul ihr entschuldigende Blicke zu. Sie schämte sich ein wenig wegen der Männer an der Bar. Andererseits: Was gingen sie Zuschauer an? Sie war ja mittendrin. Da hämmerte der Alte sein Glas an die Weinflasche und stand auf. Alles verstummte, den Betrunkenen stand vor Spannung der Mund offen; der Wirt lehnte sich gegen die Wand, um bequemer zuhören zu können. Nachdem er sich der allgemeinem Aufmerksamkeit nochmals versichert hatte, kündigte der Alte an, jetzt alles und zwar endgültig und ein für alle Mal erklären zu wollen. Da die Angelegenheit so wichtig sei, müsse man sie rücksichtslos aus sich rauspfeifen: Das Leben ist so lange, begann er die Rede, da** man zusehen muss, wie man es aushält. Ich sage nicht, da** es schlecht oder gut ist, es ist nun einmal da, was will man machen, da kann man viel drüber reden, man kommt doch nicht weiter, aber eins, das fühlt man irgendwann, wir alle fühlen es, und wenn nicht, dann verleugnet man alles, was man nur ist. Der Himmel über mir und das Herz in mir, meine Damen und Herren, diese beiden geben mir zu verstehen, da** uns die Freiheit verfolgt, und der einzige Weg, ihrer gerechten, aber grausamen Forderung zu entkommen, ist es, sich ihr zu stellen. Als endlich auch die Katze ihre Ohren aufstellte, fuhr er mit triumphierendem Blick fort: Manche werden heimlich irre auf der Flucht, weil sie sich einrichten und anfreunden, mir aber war es nicht möglich, der Sirene Freiheit zu entgehen, sie hat mich eingeholt, aus der Bahn geworfen, meine Karriere habe ich ihr geopfert, meine Gesundheit, die Familie, was soll dann die Freiheit, höre ich euch sagen, aber sie ist blind, ist wie ein brennender Wind in der Wüste, der dich vorwärts peitscht. Das Leben ist zu lange, um dem standzuhalten, man wird mürbe, man muss nachgeben. Aber hier sage ich euch, auch ihr habt nichts zu verlieren als den Verlust der Freiheit, la**t liegen, was euch beschwert, und folgt mir nach, ein letzter Schluck, ein letzter Biss, und es ist die Welt, die wir umwerfen werden! Er leerte sie in einem Zug, warf die Weinflasche an die Wand. Da sprangen die Männer an der Bar auf und zerschmetterten die Gläser am Schädel des Nachbarn. Dann waren sie auch schon alle aus der Tür, zuletzt schlüpfte noch die Katze durch den Spalt. Der Wirt fegte mit bloßen Händen die blutigen Scherben zusammen. Paul saß da und ritzte mit dem Fingernagel Zeichen in den Tisch. Als Karo den Mund öffnete, kam kein einziger Laut, sie hustete, nichts geschah, sie glaubte zu ersticken. Da endlich beugte er sich zu ihr herab, wie um etwas zu sagen, das aber im Gepra**el, wie von Regen, unterging. Es war der Applaus, der sie aus den Gedanken riss. Der alte Mann am Pult lächelte, zog sich Sonnenbrille und Hut wieder an, dann löste sich alles schon im allgemeinen Gemurmel auf. Sie hätte nicht rennen müssen, so müde war sie gewesen, da** sie von der Lesung eh nichts mitbekommen hatte. Gerade verschwand der Große, der schräg vor ihr gesessen hatte, in der Menschenmenge. Als Karo in die Bahn kletterte, hatte sie das Gefühl, um das Beste heute betrogen worden zu sein.