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1. „Käse oder Schinken?“ Mario erschrak und starrte die Stewardess verwirrt an, er war mit den Gedanken sehr weit weg und dies waren nach fast 3 Jahren die ersten deutschen Worte, die persönlich an ihn gerichtet wurden. Mit einem aufgesetzten Lächeln wiederholte sie gelangweilt ihre Frage und hielt ihm das pappige Brötchen direkt vor die Nase, aber er lehnte dankend ab. Er hatte panische Angst vorm Fliegen und auf dem Flug von Caracas/Venezuela nach Frankfurt hätte er sich unter keinen Umständen abgeschnallt oder sich auch nur einen Millimeter von seinem Sitz entfernt, auch nicht zum Pinkeln, was ihm nun mehr und mehr Sorge bereitete, denn das wurde langsam zum Problem. Sofort nach der Landung in Frankfurt, bei der er Todesängste ausgestanden hatte, schnallte er sich bereits ab, obwohl das noch nicht erlaubt war. Er nahm seine wenigen Habseligkeiten und drängelte an allen Pa**agieren vorbei, die ihm im Weg standen, denn nun hatte er es überaus eilig, zu einer Toilette zu kommen. Der Aufenthalt in Frankfurt/Main war sehr kurz und bei dem Start mit der nächsten Maschine nach Stuttgart hätte er am liebsten vor Angst in den Vordersitz gebissen, denn er war nun völlig übermüdet, hungrig, leicht reizbar und mit den Nerven ziemlich am Ende; zum Glück saß neben ihm nur eine Person, und die war in eine Zeitung vertieft und schien ihn nicht zu beachten. „Wie lange haben wir noch bis Stuttgart?“ fragte er die Stewardess, die deutlich jünger und auch freundlicher war als die vorherige. „Noch eine knappe halbe Stunde.“ Nicht mehr lange, und er hatte endlich wieder festen Boden unter den Füßen – und war wieder in Deutschland. Vor 3 Jahren hatte er die Schnauze voll von seinem Beruf als Bankkaufmann und erfüllte sich mit 37 Jahren den schon lange gehegten Wunsch, einmal den Jakobsweg entlang zu gehen. Bis dato hatte er alles, was er an Infos darüber bekommen konnte, verschlungen und sich auch nicht nur mental, sondern auch konditionell auf seinen großen Wunsch vorbereitet. Er hatte sich mit einer großen Party von Familie und Freunden verabschiedet und wollte eigentlich nach 3 Monaten wieder zu Hause sein – eigentlich. Denn wie das Leben so spielt, hatte er nette Menschen auf dem Jakobsweg kennengelernt, die ihn nach Venezuela eingeladen hatten und dort blieb er dann hängen. Sie lebten gemeinsam auf einem Bauernhof als Selbstversorger und je länger er dort war, desto klarer wurde ihm, da** das genau sein Ding war. Zwar musste auch er tüchtig körperlich arbeiten, aber eigentlich lebten sie in den Tag hinein, feierten, tranken, aßen und genossen ihr Leben in vollen Zügen – eigentlich liebte er dieses Lotterleben, kam aber in letzter Zeit doch ins Grübeln. In 6 Wochen hatte er Geburtstag – die magische 40 – und deshalb befand er, da** es nun wieder an der Zeit war, in die alte Heimat zu kommen und ein „normales“ Leben zu führen. Er freute sich schon auf seinen Onkel Giuseppe, Tante Melanie und seine beiden Cousinen Laura und Maria, und da** er sie endlich nach so langer Zeit wieder in seine Arme nehmen konnte, denn schließlich waren sie seine einzige Familie. Auf die Gesichter war er schon gespannt, denn er hatte seinen Besuch nicht angekündigt und wollte sie überraschen. Er war sich sicher, da** sein Platz in Zukunft in Deutschland war und das wollte er natürlich zuerst seiner Familie mitteilen. Von Venezuela aus hatte er sich im Internet über den Kauf eines Bio-Bauernhofes in der Nähe der Familie informiert und die interessantesten Objekte rausgesucht – er wollte sesshaft werden und eine eigene Familie gründen, die richtige Frau würde er ganz bestimmt noch finden. Bei dem Gedanken dachte er an Conzuela, die er immer Conny nannte und die das aber überhaupt nicht mochte. Conny brachte ein Mal pro Woche Brot, das in dem 4 km entfernten kleinen Dorf gebacken wurde und wunderbar schmeckte. Er hatte sich mehrmals mit ihr verabredet und sie gingen spazieren, unterhielten sich stundenlang und sie hatte einen so köstlichen Humor, da** ihm jetzt bei dem Gedanken an sie die Tränen kamen. Es war nichts Tieferes daraus entstanden, das er auch nicht zula**en wollte, denn Conny war in ihrer Heimat mit ihrer riesigen Verwandtschaft tief verwurzelt und er beneidete sie darum; und seine Wurzeln lagen nun mal hier in Deutschland bei seiner Familie, davon war er überzeugt. Die Landung am Stuttgarter Flughafen riss Mario jäh aus seinen Erinnerungen und verlangte ihm wieder ganz schön was ab, er war überglücklich, als er das Flugzeug endlich verla**en konnte – das würde auf jeden Fall für ihn für lange Zeit der letzte Flug gewesen sein. Mario trat aus dem Flughafengebäude, atmete tief die frische Luft ein, die nach na**er Erde und etwas Abgas roch, nahm den riesigen Geräuschpegel um sich herum wahr, der in zu Anfang in Frankfurt erschreckte, und bestieg den Bus nach Reutlingen, der nächsten Etappe seiner Reise. Er sah aus dem Fenster und vieles kam ihm vertraut vor: die saftigen Wiesen, die grünen Hügel und auch an dem Straßenverkehr konnte er sich kaum satt sehen. Schließlich entdeckte er die Achalm, die Burgruine hoch über Reutlingen, bei der er als Schulkind zu den Wandertagen und auch mit seinen Freunden zum Indianerspielen unzählige Male gewesen war – erst jetzt bemerkte er, wie sehr er seine Heimat vermisst hatte und langsam verbla**ten die Gedanken zurück an Venezuela und an Conny. Vor 3 Jahren war er innerlich völlig ausgelaugt und damals an einem Punkt angelangt, an dem er einfach nicht mehr konnte, heutzutage hat man wohl ein Wort oder auch eine Bezeichnung dafür gefunden: Burnout; damals war man einfach nur fertig oder bildete sich etwas ein. Er war sich nicht mehr sicher, ob das, was er bis dato tat, alles so richtig war oder ob er irgendetwas versäumt hatte. Seine Freunde hielten ihn für völlig verrückt, als er seinen Job, in dem er gut verdiente und sich so mancher die Finger danach leckte, und die riesige, moderne Wohnung mitten in Reutlingen mit dem herrlichen Blick, kündigte und dann auch noch seinen Porsche verkaufte, den er heiß und innig liebte - sie gaben ihm keine 2 Wochen, um wieder zur Vernunft zu kommen. Aber er selbst war sich so sicher, da** er das richtige machte und war heute überaus dankbar dafür, da** er damals den Mut aufbrachte und sich so entschieden hatte. In den letzten Jahren hatte er erkannt, was er falsch gemacht hatte und warum er so unzufrieden war. Natürlich hatte er sich einen gewissen Wohlstand erarbeitet, war Mitglied in mehreren Vereinen und hatte einen überaus großen Freundeskreis, aber das erfüllte ihn nicht, er wollte ein anderes Leben führen - und ihm war es egal, was andere von ihm dachten. Die meisten seiner sogenannten Freunde hatten sich von ihm abgewandt und mit wenigen war er noch einige Monate später in Kontakt, bis auch diese abbrachen – sie verstanden ihn nicht, und er sie auch nicht mehr. Einzig sein Onkel Giuseppe, seine Tante Melanie und die beiden Cousinen Laura und Maria hielten zu ihm und verstanden ihn, zumindest versuchten sie es und machten ihm keine Vorwürfe oder gar Vorschriften. Vor einigen Monaten hatte er mit ihnen telefoniert, was absolut kompliziert war, denn der Hof, auf dem er lebte, war gut 2 Stunden von der nächsten größeren Stadt entfernt und dort war das Telefonieren eine ziemliche Glücksache. Der Bus stoppte in Reutlingen und riss ihn aus seinen Gedanken. Trotz der langen Reise und dem Schlafmangel stieg er beschwingt aus, atmete tief die Luft der Stadt mitsamt dem Dreck ein, nahm die betriebsame Hektik um sich herum wahr und fühlte sich sofort zuhause. Er ging auf direktem Weg zum Busbahnhof und bestieg nach wenigen Warteminuten den Bus nach Pfullingen, dem Ziel seiner Reise, wo seine Familie wohnte. Er lief durch die vertrauten Straßen und Ga**en bis in die Münsinger Straße und hatte nur noch wenige Meter vor sich und rannte fast, die Vorfreude auf seine Familie nahm ihm fast die Luft. Er klingelte und wartete – nichts. Er klingelte mehrmals, aber wieder rührte sich nichts. Komisch, denn es war fast 18.00 Uhr und eigentlich war um die Zeit immer jemand zuhause. Seine Familie konnte auch nicht im Urlaub sein, denn es war Mai, dazu noch ein Montag, keine Ferienzeit in der Schule, denn beide Mädchen waren noch schulpflichtig, und heute war auch kein Feiertag. Erst jetzt bemerkte Mario, da** kein Klingelschild angebracht war und blickte über den verwilderten Vorgarten – ein Zustand, den es bei seinem Onkel Giuseppe niemals gab. Hier stimmte etwas nicht und er ging direkt in den Garten. Auch hier das gleiche Bild: der Rasen war nicht gemäht worden und war insgesamt ungepflegt. Er blickte durch das Fenster der Garage – die war völlig leer, auch ein Zustand, den es niemals gab, denn die Garage war immer so voll mit Fahrrädern, Mülltonnen und Gartengeräten, da** Tante Melanie Mühe hatte, mit ihrem Kleinwagen Platz zu finden. Die Fenster des Hauses waren mit Gardinen zugehängt und obwohl er in jedes einzelne Fenster spähte, konnte er nichts erkennen. Mario stellte seinen großen Rucksack auf der Terra**e ab und beschloss, sich in der Nachbarschaft durchzufragen. Er klingelte in den Häusern reihum, aber erst im fünften Haus hatte er Glück, im ersten Stock öffnete sich ein Fenster. „Grüß Gott, mein Name ist Mario Pini und ich bin auf der Suche nach der Familie Pini in der Nummer 12, wir sind verwandt.“ „Die Familie kannte ich gut, die wohnen hier nicht mehr.“ Die ältere Frau war sehr freundlich, sie bemerkte Marios Gesicht und die Enttäuschung darin. „Warten Sie junger Mann, ich komme runter.“ Sie öffnete die Tür, sah ihn lange an und lächelte. „Ja, Sie sind mit Giuseppe verwandt, das sehe ich deutlich, die Ähnlichkeit ist verblüffend. Außerdem habe ich Sie früher öfters mit einem Sportwagen hier gesehen, habe ich Recht?“ „Ja, das stimmt, der mit dem Sportwagen war ich. Giuseppe Pini ist mein Onkel. Habe ich Sie eben richtig verstanden, die Familie Pini wohnt nicht mehr hier? Seit wann? Aber das kann eigentlich nicht sein, das hätten sie mir doch gesagt.“ „Mein Name ist Frieda Votteler und jetzt kommen Sie erst mal rein, Sie sind ja vollkommen außer sich.“ Völlig verstört folgte er der freundlichen Frau Votteler und setzte sich an den gemütlichen Küchentisch in der erstaunlicherweise sehr modernen Küche. Er sah ihr zu, wie sie Wa**er auf den Gasherd stellte und Tee zubereitete. „So Mario, ich darf doch Mario sagen? Jetzt trinken Sie erst mal einen Schluck Tee. Ich weiß von Melanie und Giuseppe, da** Sie vor 3 Jahren ausgewandert sind. Ich habe versucht, Sie über eine Handynummer, die mir Melanie einmal für Notfälle gegeben hatte, zu erreichen. Denn das mit der Familie Pini versteht hier in der Nachbarschaft niemand, ich am allerwenigsten. Überaus liebe und hilfsbereite Menschen und auch die Mädchen, so hübsch und gescheit. Vor rund 4 Monaten sind sie einfach so über Nacht weggezogen, ohne sich zu verabschieden oder irgendjemanden etwas davon zu erzählen. Und wenn ich sage über Nacht, dann meine ich das auch so – am Abend waren sie noch da und alles war in Ordnung, und am nächsten Morgen waren sie weg, und zwar mit Sack und Pack. Ich habe einen Lkw gehört, habe mir aber nichts dabei gedacht. Keiner weiß, wohin sie sind und vor allem, warum sie weg sind. Wissen Sie, gewisse Nachbarn wachsen einem ja ans Herz und ich vermisse sie sehr. Giuseppe und Melanie gingen mir immer gerne zur Hand und halfen, wo es nur ging, auch bei anderen Nachbarn. Im Gegenzug habe ich auf die Mädchen aufgepa**t, als sie noch klein waren oder habe nach dem Rechten gesehen, wenn sie in Urlaub fuhren. In den letzten 1 ½ Jahren hat Melanie hier im neuen Supermarkt gearbeitet und ich habe das eine oder andere Mal für sie gekocht und gebacken, was mir sehr viel Freude gemacht hat. Wir haben oft zusammen gegessen, hier oder drüben. Ich kann behaupten, da** wir befreundet waren, und zwar gut befreundet. Und jetzt sind sie einfach weg und wer weiß, wo sie jetzt sind und wie es ihnen geht.“ Mario hörte ungläubig zu und begriff erst langsam, denn die Informationen sprudelten nur so aus Frau Votteler heraus. Er bemerkte auch, da** sie sich große Sorgen machte und die Pinis nicht nur mochte, sondern sehr liebte. „Sie meinen, die Familie Pini ist einfach so Hals über Kopf weg? Das kann doch nicht sein, das pa**t überhaupt nicht. La**en Sie mich überlegen, ich habe das letzte Mal Anfang Januar mit ihnen telefoniert, das genaue Datum weiß ich nicht mehr, aber es muss kurz nach Sylvester gewesen sein, denn wir haben uns gegenseitig alles Gute für das neue Jahr gewünscht, das weiß ich genau. Und wann sind sie weggezogen?“ Frau Votteler war aufgestanden und holte aus der Schublade einen dicken Kalender, dessen Seiten vollkommen mit handschriftlichen Vermerken übersät waren. Sie blätterte zurück bis Januar. „Hier steht es, es war der 14. Januar, sehen Sie selbst.“ „Wie bitte? Wenn sie vorgehabt hätten, umzuziehen, hätten sie mir doch etwas davon erzählt, denn unser Telefongespräch ging mindestens 20 Minuten lang. Nein, das kann nicht sein, da stimmt etwas nicht.“ „Das sage ich doch auch. Ich bin sogar schon bei der Polizei gewesen, aber dort sind, entschuldigen Sie den Ausdruck, nur überhebliche Trottel. Die hat das überhaupt nicht interessiert, was ich zu sagen hatte und mich fast ausgelacht und mich als senile Alte hingestellt, die sich in fremde Angelegenheiten einmischt. Aber ich bin von Anfang an der Meinung, da** da irgendetwas nicht stimmt, denn mir hätten sie doch bestimmt etwas erzählt, da können Sie Gift darauf nehmen. Und nachdem Sie nur wenige Tage vorher miteinander telefoniert haben und Ihnen ebenfalls nichts erzählt haben, bestärkt mich das in meiner Meinung.“ Mario tat diese Frau sehr gut und fand sofort eine Verbündete in ihr, denn sie hatte vollkommen Recht, das stank zum Himmel. Seine Familie würde niemals so ohne Weiteres aus dem gewohnten Umfeld verschwinden, denn er wusste, da** sie sich hier absolut wohl fühlten und auch die Mädchen niemals aus dem gewohnten Umfeld herausreißen würden. Und wer um alles in der Welt zieht mit Sack und Pack bei Nacht und Nebel aus? Ihn beschlich ein ganz ungutes Gefühl und sein Magen krampfte sich zusammen. Die Familie Pini hatte ganz offensichtlich seine Hilfe gebraucht und er war nicht hier, er war nicht mal erreichbar. Großspurig hatte er vor 3 Jahren sein Handy am Flughafen vor seinem Abflug nach Spanien zum Abenteuer Jakobsweg in den Müll geworfen – hätte er sein Handy nur behalten, dann wäre er erreichbar gewesen, für seine Familie und auch für Frau Votteler, er ha**te sich für sein großspuriges Verhalten und seinen Egoismus. Frau Votteler bemerkte Marios Gemütszustand. „Jetzt machen Sie sich mal keine Sorgen und vor allem keine Vorwürfe, das ist jetzt die reinste Zeitverschwendung, denn so wie es ist, ist es nun mal. Was wollen wir nun unternehmen?“ Mario musste fast lachen, als er in das gutmütige, runde und entschlossene Gesicht der kleinen, stämmigen 68-jährigen Frau blickte, die ihm hier in einem geblümten, weiten Kleid mit dicker Strumpfhose und bequemen Schlappen gegenübersaß. Die Frisur, die Pausbacken und die wachen Augen erinnerten ihn irgendwie an die alten Filme von Miss Marple. „Waren Sie schon im Haus drin und haben sich umgesehen?“ „Nein, das ging nicht. Natürlich habe ich es versucht, ich habe einen Hausschlüssel. Aber die Schlösser wurden ausgetauscht.“ „Haben Sie ein Brecheisen?“ „Im Keller bestimmt, kommen Sie mit.“ Er folgte ihr in den völlig vollgestopften Keller, fand aber das Werkzeug auf Anhieb. „Brechen wir jetzt ein?“ Frau Votteler war aufgeregt und zitterte am ganzen Leib. „Ich breche dort ein und Sie bleiben hier, haben wir uns verstanden?“ Mario versuchte so etwas wie Autorität auszustrahlen, was ihm aber misslang, denn bei seiner Körpergröße von 1,67 Meter, der hageren Statur, den schulterlangen, ungepflegten Haaren und dem Hippy-Outfit nahm ihn nicht einmal die gute Frau Votteler für voll. „Nö Mario, das kommt auf keinen Fall in Frage, entweder wir gehen zusammen in das Haus, oder ich rufe die Polizei.“ Das hatte gesessen und Mario verschlug es fast die Sprache. „Das ist Erpressung.“ „So sieht es aus. Sie werden meine Hilfe schon noch zu schätzen wissen.“ Sie zog sich Straßenschuhe an, nahm eine Strickjacke von der Garderobe und ging ihm voraus; Mario hatte keine andere Wahl, als sie mitzunehmen. Es war zwischenzeitlich 19.30 Uhr geworden, aber noch viel zu hell. „Wir sollten warten, bis es dunkel ist,“ schlug Mario flüsternd vor, als sie auf der Terra**e standen. „Von hier aus kann uns nur Frau Reinhardt sehen, und die ist gerade vorm Fernseher, weil ihre Lieblingsserie läuft, und dort wohnt Herr Scherer, der nicht nur schwer hört, sondern fast blind ist. Also Mario, fangen Sie endlich an.“ Mario war handwerklich nicht nur sehr ungeschickt, sondern auch überaus nervös, denn niemals zuvor war er irgendwo eingebrochen. Er brauchte eine Ewigkeit, bis er die Terra**entür endlich offen hatte und sie dabei erheblich demolierte. Frau Votteler war währenddessen sehr ungeduldig und trieb ihn immer wieder mit unangebrachten Kommentaren an. Sie traten über Gla**plitter durch die Terra**entür und sahen sich ungläubig in dem völlig leeren Wohnzimmer um. Schweigend und fa**ungslos gingen die beiden von einem Zimmer in das andere, bis auf die Vorhänge an den Fenstern war nichts, auch nicht das Geringste im Haus verblieben. „Das kann doch alles nicht wahr sein,“ rief Frau Votteler aufgebracht, „wann wollen die denn hier alles abholt haben, sogar die Küche ist abgebaut, das müssen ja Ma**en von Helfer gewesen sein, und das mitten in der Nacht. Das gibt es doch nicht.“ Frau Votteler war völlig am Ende. Mario nahm die weinende Frau in den Arm und brachte sie zurück in ihr Haus. Schweigend saßen die beiden noch lange am Küchentisch und tranken einen Beruhigungsschnaps nach dem anderen. „Und jetzt?“ durchbrach Frau Votteler die Stille. „Wir suchen natürlich weiter, das ist klar. Arbeitsstelle, Kollegen, Schule – es gibt noch einige Stellen, die man abklappern kann, wir fangen aber erst morgen damit an. Sie gehen jetzt erst mal ins Bett und schlafen sich aus. Ich muss mir noch ein Hotelzimmer suchen.“ „Das kommt ja gar nicht in Frage, Sie bleiben hier, ich habe ein Gästezimmer für Sie. Ich ahne schon, was Sie vorhaben, Sie wollen das alles ohne mich machen. Versprechen Sie mir sofort, da** wir gemeinsam auf die Suche gehen!“ Frau Votteler sah ihn flehend an und Mario konnte nicht anders. „Auf jeden Fall, ich verspreche Ihnen hoch und heilig, da** wir gemeinsam suchen.“ Zufrieden lächelte die leicht angeschwipste Frau Votteler, schlurfte ihm voraus, öffnete eine Tür und zeigte hinein. „Hier ist Ihr Reich junger Mann, Bettwäsche ist im Schrank, hier nebenan ist das Bad, Sie finden schon, was Sie brauchen. Ich muss jetzt ins Bett. Gute Nacht.“ Mario schmunzelte. Ihm gefiel die alte Dame und die Tatsache, da** sie so ein Gottvertrauen zu ihm hatte. Er hatte keine Lust, das Bett zu beziehen und zog seinen Schlafsack aus dem Rucksack, den er vorhin vom Haus seines Onkels mitgenommen hatte. Nach einer ausgiebigen Dusche in dem modernen Bad, in dem er zu seinem Erstaunen allerhand Pflegemittel in den tollsten Duftvarianten vorfand, fiel er in einen unruhigen Schlaf.