Der Augenblick seines Sterbens war genau so, wie er es sich immer vorgestellt hatte. Als Schüler musste er einmal einen Vortrag über das Thema halten. Doch damals schien das mit ihm nicht das Geringste zu tun zu haben. Aber viele Jahre später, als dieser Augenblick für ihn schließlich doch gekommen war, entfaltete es sich genau so, das Sterben:
Vor seinem geistigen Auge flog sein ganzes Leben an ihm vorüber, wichtige und weniger wichtige Ereignisse, Menschen, die ihm viel, aber auch solche, die ihm wenig bedeuteten, es war zum Weinen und Lachen zugleich, auch zum Fürchten, zum Wütendsein. Aber er bemerkte, da** er das gar nicht mehr vermochte. Vielmehr hatte er das Gefühl, da** seine Züge entspannt waren, da** er lächelte. In diesem Augenblick konnte ihn nichts mehr erschüttern.
Noch nicht einmal die Erkenntnis, da** sich der Unfall, der zu seinem viel zu frühen Tod führte, nicht zufällig ereignete. Sondern da** diese fremde Frau, die den anderen Wagen gelenkt hatte, den Zusammenstoß auf der Landstraße in voller Absicht herbeigeführt hatte.
Die suchte den Tod.
Er nicht.
Er war noch nicht bereit. Er war doch noch mitten im Rennen, hungrig nach Erfolg und nach Leben. Gerade hatte er sich dieses schicke, neue Auto gekauft. Das nun zu seinem Sarg wurde.
Was für ein schlechter Zeitpunkt, dachte er, und hätte beinahe laut gelacht, aber das gestattete sein Körper nicht mehr.
Als sein Genick barst, spürte er nur noch Frieden.
Er konnte dieser Frau nicht zürnen.
Nicht jetzt.
Nicht, während er die wichtigste Erfahrung seines Lebens machte. Denn er erkannte, da** er nicht nur sein Leben noch einmal vor sich sah, sondern da** er viel weiter zurück ging, bis zu seiner Geburt, bis vor seiner Geburt, bis zu anderen Leben.
Namen tauchten auf, Orte, Geburten, Tode.
Er wusste, da** er auf das blendende Licht zugehen musste, obwohl es fürchterlich schmerzte.
Er begriff, da** er ein Teil der Ewigkeit war, und da** ihm verziehen würde. Von etwas, das größer war als er selbst.
Die Frau, die den Unfall mutwillig verursacht hatte, starb nicht. Nicht an diesem Tag. Sie starb viele Jahre später. Als der Kummer, der sie den Tod herbeisehnen ließ, längst Schnee von gestern war. Eine heimtückische Krankheit raffte sie hin.
Auf dem Sterbebett flehte sie den Tod an, er möge sie verschonen. Um ihrer Tochter willen, die noch ein Kind war und hilflos. Sie war noch nicht bereit, sie hatte doch noch so viele Pläne. Nicht wie damals. Sie war noch hungrig, nach Liebe, nach Erfolg. Nach Erfahrungen.
Sie stellte sich vor, da** sie nie mehr etwas auf die lange Bank schieben würde, wenn sie nur wieder gesund würde, ganz bestimmt nicht.
Doch der Tod schüttelte nur den Kopf. Aus seiner Sicht starb sie viel zu spät. Gemessen an ihren Taten.
Chor: Erde ruft
Er wunderte sich manchmal über die, die ihm hinterherliefen. Als könnten sie es nicht erwarten. Dann ärgerte er sich darüber, da** sie ihm ins Handwerk pfuschten. Diese Depressiven. Diese Weinerlichen, Neunmalklugen. Deren wa*kelmut ihn anekelte.
Euch vergesse ich schon nicht! Keine Sorge.
Chor:
Will reich sein, ein Scheich sein, mit vielen Millionen,
verehrt sein, begehrt sein.
Erde ruft
Denkst du auch manchmal, da** der Tag schneller vergehen soll? Wenn das Leben ein ständiges Warten auf den Eintritt eines bestimmten Ereignisses ist, dann wirst du einmal in deiner Bilanz feststellen, da** die Wartezeit die Lebenszeit überwiegt.
Und dabei glaubtest du früher immer, du würdest in deinem Leben etwas Besonderes schaffen. Etwas von Bedeutung. Du wusstest nicht genau, was das sein würde, aber du vertrautest darauf, da** es sich schon finden würde. Alles, was du brauchtest, war Zeit. Zeit hattest du ma**enhaft vor dir, dachtest du. Manchmal fandest du, es war viel zu viel, du warst ungeduldig, aber auch gelangweilt. Dann wünschtest du, die Zeit würde schneller voranschreiten. Da** die Zeit, die immer rasanter verflog, dein Leben war, erkanntest du erst viel später.
Chor: Erde ruft... tick tack...
Mehr und mehr fehlte dir die Kraft, dich über das hinaus einzusetzen, was dir täglich abverlangt wurde. Du spürtest, da** du ein Recht hattest, dir ein wenig Ruhe zu gönnen. Da** das meistens bedeutete, da** du deine Abende vor dem Fernseher vergeudetest, wolltest du nicht zugeben.
Und tatsächlich mangelt es langsam an Zeit. Obwohl du das noch nicht wahrhaben willst. Die Gefahr einer Verknappung von Zeit liegt nicht begründet in zuviel Aktivitäten. Die könnte man reduzieren. Die Gefahr einer Verknappung von Zeit liegt vielmehr darin, da** ein Strom versiegt. Dabei liegt die Tragik nicht in seinem tatsächlichen Ende, sondern in der Phase vor dem tatsächlichen Ende. In der Phase, in der der einstige Strom zum Rinnsal wird. Und deine ungelebten Lebensträume zur Farce verkommen.
Chor: ticktack... Erde ruft...
Zeit läuft ab, Zeit wird knapp...
Will reich sein, ein Scheich sein, mit vielen Millionen, verehrt sein, begehrt sein ...
Zeit läuft ab, Zeit wird knapp... Erde ruft...
Will reich sein...
Zu viele Pläne hast du dir aufdrängen la**en. Zu viele Ziele, die sich im Nachhinein nur als Wege entpuppten.
Dann bist du erschöpft. Von all den Dingen, die du erreicht hast, und die du nicht brauchtest und nicht wolltest.
Dann sehnst du dich vielleicht auch nach dem Nichts. Der einzige Wunsch, der dir ganz sicher erfüllt wird.
Wenn die Zeit reif ist.