[Next Novel Sneak Peek]
Vom Attentat auf den Hohen Kommissar haben Sie womöglich gehört. Wie eine der Kugeln ihr Ziel verfehlte und weiter über den Hof der Alliierten Hochkommission flog, durch den Septembermorgen hinüber zum Ehrenspalier der Adjutanten. Die Tatsache dieses Querschlägers ist später ein wenig in den Hintergrund getreten, die anderen Projektile des Attentäters trafen ja ihr Ziel, und so hatte jeder nur Augen für den sterbenden Kommissar.
Er wälzte sich am Boden des offenen Wagens, die Pferde gingen durch vom Lärm der Schüsse, die Adjutanten riefen, der Hohe Kommissar schrie, der Kutscher brüllte, um seine Tiere zur Besinnung zu bringen, aber Besinnung ist in einem solchen Moment keine Selbstverständlichkeit, weder im Körper eines Pferdes noch in einem aufgeschreckten Schlosshof. In langer Reihe liefen die Adjutanten hinter der Kutsche her, ihnen folgte die Feldgendarmerie, die Herren von der Feuerwehr, dazu die kleine Sanitatsbrigade und ganz am Ende mit seiner gelblichen Ledertasche der Leibarzt des Hohen Kommissars, der sich im Laufen noch die Jacke knöpfte. Er ahnte schon, da** er zu spät sein würde, denn längst lief ja Blut aus dem Wagen auf den Sand im Hof der Hochkommission und jeder Tropfen, der herabfiel, das wusste der noch immer keuchend hinter dem Wagen herlaufende Leibarzt, fehlte im Körper des Kommissars. Ein einziger Adjutant rannte nicht mit den anderen. Ein Vorwurf war ihm daraus nicht zu machen: Still lag er am Fuß der Mauer neben dem Schlosstor – auf dem Bauch, den Kopf zur Seite gedreht, mit aufgerissenen Augen und offenem Mund, als schaute er über die Schulter zurück auf etwas, das niemand sehen konnte, am wenigsten er selbst. Dies war der erste Tote des Attentats, selbst wenn später von ihm kaum mehr die Rede sein sollte. Sein Name war Heinrich May, in den Zeitungen tauchte er nur am Rande auf, als Beleg für die Feigheit des Attentäters, der aus dem Hinterhalt schoss und dabei auch das Opfer eines einfachen Adjutanten in Kauf nahm. In der Aufregung dauerte es eine ganze Weile, bis sie May entdeckten, zu viel hatte man mit dem Versuch zu tun, den Hohen Kommissar mithilfe einiger Notoperationen auch dann noch im Diesseits zu halten, als sein Körper längst kein Lebenszeichen mehr gab. Im Keller des Schlosses gab es vom Krieg her ein Behelfslazarett der Wehrmacht, dort lag der Kommissar auf einer Bahre, der Leibarzt hatte seinem Patienten die Uniformjacke übergelegt, um eine Unterkühlung zu vermeiden, seine vormals gelbliche Tasche stand am Fußende, von Blut befleckt, er selbst arbeitete schweigend im Körper des sterbenden oder bereits gestorbenen Kommissars, umringt von weiteren Koryphäen, von Assistenten und Stabsstellenleitern, die regelmäßig vor die Tür geschickt wurden, hinaus zu den Beratern und Verbindungsleuten, zu den Reportern und Korrespondenten, die sich mit angehaltenem Atem vor dem behelfsmäßigen Operationszimmer drängten, bis auf den Hof und hinunter zur Rheinfähre, wo sie sich mit den einfachen Zaungästen vermischten. Niemand dachte in diesen endlosen Momenten daran, sich auf die Suche nach möglichen Hinterbliebenen zu machen.
So kam es, da** Louise May erst bei der Rückkehr aus dem Kontor vom Tod ihres Mannes las. Es hatte zu regnen begonnen, an der Haltestelle hatte sie einem Zeitungsjungen die Abendausgabe abgekauft, eben fuhr ihre Bahn über den Römerplatz, zwei Haltestellen von Deichmanns Aue entfernt. Regentropfen liefen über die Scheibe des Waggons und ließen Bahnen aus Schmutz zurück. Auf dem Platz hatte sich eine Pfütze gebildet, in der sich nichts spiegelte als schwarzer Himmel. Louise knüllte die Zeitung zusammen und sprang aus der fahrenden Bahn. Auf dem glatten Pflaster rutschte sie aus und kam auf den Gleisen der Gegenfahrbahn zu liegen. Der Fahrer der entgegenkommenden Straßenbahn sah sie, als er zum Platz einbog. Das Quietschen seiner Bremse mischte sich mit dem Kreischen der Räder in der Kurve zu einem schneidenden Ton, der sich an den Fa**aden brach. Die fahlen Scheinwerfer auf dem na**en Pflaster, das stumpf beleuchtete Gesicht des Fahrers im Widerschein, die Schreie der übereinander stürzenden Fahrgäste – als die Bahn am Ende tatsächlich zum Stehen kam, waren die ersten beiden Wagen bereits über Louise May hinweg.
Das Paar hinterließ eine Tochter. Eine junge Frau von fünfzehn Jahren, die die Nachricht vom Verlust ihrer Eltern äußerlich gefa**t aufnahm. Ein Feldjäger machte ihr die traurige Mitteilung, sie werde fortan allein auf der Welt sein. Ob sie Paten habe? iDas Mädchen dachte nach. Zu Weihnachten war immer ein Paket gekommen. Jahr für Jahr hatte sie sich am ersten Feiertag an den Wohnzimmertisch gesetzt und ihrem Patenonkel in Schönschrift eine Karte geschrieben.
Lieber Ludwig, danke für die Stifte.
Lieber Ludwig, die Schürze ist schön. Mutter sagt, ich sehe aus wie eine kleine Dame.
Lieber Ludwig, vielen Dank für den Ball. Ich habe damit im Hof gespielt und an dich gedacht. Grete
Lieber Ludwig, danke fürs Arztköfferchen. Wir sind schon alle ganz gesund. Deine Grete
Sie war ihm nie begegnet.
Erstes Kapitel
„Hoppla, Fräulein, ich helfe Ihnen mit dem Koffer. Wohin solls denn gehen?“
„Leipzig.“
„Dann will ich mal hoffen, da** Sie nicht in der Stadtmitte wohnen, da sieht es noch immer wüst aus. Bleiben Sie länger?“
Längs der Bahngleise die umgestürzten Pfähle der Überlandleitungen. Das Fenster schloss so schlecht, da** es Grete in den Augen pfiff. Eine Herde weißer Kühe lag bewegungslos um einen Tümpel. Ohne Halt durchfuhren sie eine fremde Stadt, auf dem Bahnsteig liefen in langen Mänteln Kinder neben ihrem Zug her und winkten. Das Bahnhofsschild war nicht zu erkennen. Sie fuhren unter einer zerstörten Brücke hindurch, auf den Stümpfen der Fahrbahn wuchs Gras. Grete rang nach Atem. Die Abteiltür hatten sie offen stehen la**en, auf dem Gang bollerte ein Brikettofen. Überall lag Kohlenstaub, auf dem Türgriff, auf dem Wolltuch der Kopfstützen, selbst draußen vor den Fenstern. Sie fuhren an der ausgestorbenen Arena eines Gasometers vorüber. Wie gewaltig alles war, wie schwer zu verstehen. Die Fuhrwerke auf den geflickten Straßen, die leeren, kalten Häuser, dann wieder offenes Land. 6 Blieb sie länger? Grete wusste ja nicht einmal, wohin sie unterwegs war, geschweige denn, was sie dort erwartete. Die kleine Fahrkarte hatte sie so lange zwischen den Fingern geknickt, bis der Karton in der Mitte durchgebrochen war. BONN—LEIPZIG, der Bruch lief mitten zwischen den Wörtern hindurch. Sie konnte nicht aufhören, mit den Fingern über die Pappe zu fahren, über die Vertiefung der Schrift, über das Loch, das der Schaffner hineingeknipst hatte. Aus der Bruchkante quoll das gepresste Papier hervor wie aus einer Wunde.
Ihr fielen die Augen zu, aber das Land zog weiter vor ihren geschlossenen Lidern entlang, die Büsche und Weiden, die Schatten und das Licht. Sie wollte anhalten und sich unter einen der Bäume legen, im Traum hing von der Decke des Abteils der rote Griff einer Notbremse und in ihrer Angst zog sie daran. Statt anzuhalten begannen die Räder Funken zu sprühen, die rechts und links der Gleise die Böschung in Brand setzten, dann schossen Flammen empor und Grete wünschte, sie könnten schneller fahren, um dem Feuer zu entkommen.
Am Abend erreichten sie Leipzig. Von Westen her warf die untergehende Sonne rotes Licht über die Stadt. Dahinter wartete geduldig die Nacht.