Universität Heidelberg / 24. Oktober 2014 Graffiti und Männlichkeit I. "Hallo, ich bin Christoph Fuchs! [Photo 1] Ich spreche über Graffiti und Männlichkeit. Ich möchte Euch die symbolischen Strategien vorstellen, mit denen junge Männer weltweit eine Stadt nach der anderen erobern und für sich einnehmen. Vor etwa sechzig Jahren haben sie damit begonnen, ihre Pseudonyme auf Wände und Züge zu sprühen und bis heute weiß niemand so recht zu sagen, wieso sie das tun. [2] Die Sprüher selbst – nach meiner Erfahrung – am allerwenigsten. Meine drei Hauptthesen lauten wie folgt: Erstens: Die innere Landschaft, die Gefühlslandschaft der heranwachsenden Männer bildet sich als ein direktes Abbild jener äußeren Landschaften heraus, die sie real erobern und bezeichnen. [3] Zweitens: Die ungestümen Pseudonyme der Sprüher – ihre sogenannten Styles – zeigen ebenfalls nichts anderes als eine Illustration des chaotischen Inneren sich entfaltender Männlichkeit. Jeder neue Style ist ein unmittelbares Porträt von männlichen Gefühlen in ihrem j**eiligen Entwicklungsstadium. [4] Und Drittens eine These, die Klaus Theweleit in seinem aktuellen 'Buch der Königstöchter' formuliert und die sich ganz wunderbar auf die Graffiti-Szene übertragen lässt: Landraub und Kolonisierung werden über den Körper der Frauen vollzogen. Vor etwa zehn Jahren haben die Sprüher dieser Welt damit begonnen, neben Zügen und Wänden auch Frauenkörper zu bemalen. Hier sehen wir – in der Tradition von Daddys Werkstatt- bzw. Schmuddel-Kalendern – die aktuellen zwölf Monate aus dem Graffiti-on-Girls-Kalender 2014. [5] Wenn Ihr mir also bitte folgen wollt: Zuerst werfen wir einen ausgiebigen Blick auf die Dramaturgie bzw. Choreographie von Graffiti-Sprühern. Danach wenden wir uns ihren Schrift-Bildern zu und abschließend komme ich kurz darauf zu sprechen, weshalb Frauen in diesem Spiel nur als Körper geduldet werden, nicht aber als Mitspielerinnen. [6] Sämtliche Photos für meinen Vortrag habe ich aus diversen, frei zugänglichen Graffiti-Archiven und -Communities im Netz gefischt oder teilweise selbst aufgenommen. Um die Photos vollständig zu erfa**en, genügen wenige Sekunden. Auf spezielle Details werde ich Euch hinweisen. [7] Graffiti-Maler folgen ausnahmslos einem recht simplen Dreischritt aus erobern, sprühen und triumphieren. Ich möchte, da** Ihr eine ungefähre Vorstellung davon bekommt, wie unzählige junge Männer heute nahezu überall auf der Welt jeden Tag und jede Nacht streng genau nach diesem Drehbuch arbeiten. [8] Zunächst begeben sie sich auf die Suche. Gemeinsam unternehmen sie Städtereisen und fahren auf Europa-Tour oder durch Asien. [9] Den Signaturen, den Tags zufolge befinden wir uns hier in Paris. Das selbst gehauene Loch führt in die berühmten Katakomben unter der Stadt. [10] Wohin auch immer dieses Rohr führt, viele Maler sind gut trainiert und ausgerüstet. [11] Der Eingang zur Unterwelt in Russland. [12] THRILL, ein Maler aus Berlin, im ehemaligen Zigarettenwerk von Spandau. [13] Aufgebogene Lamellen, Räuberleiter, Klimmzüge. [14] Bolzenschneider kommen meist als Stachel- und Maschendrahtknipser oder, wie hier zu sehen, als Schlosszange zum Einsatz. Ein weit verbreiteter Universalschlüssel. [15] War die Suche erfolgreich, folgt ein recht zeitintensiver Part: die Observierung des begehrten Objekts – das sogenannte Spotten – kann bisweilen mehrere Wochen dauern. Hier ein Spotter in Berlin bei einer telefonischen Lagebesprechung. [16] In Russland, vielleicht im selben Winter, lugt VASIA von der TWC Crew hinter einer Lampe hervor. [17] Sie hocken im Busch am Wegesrand. [18] Sie hocken im Wald hinter Bäumen. [19] Und sie hocken im Nest über Milano. [20] Ist die Luft dann rein – der Moment also günstig – verla**en Sie ihre Deckung und halten direkt auf das Ziel zu. Hier eine kanadische Bärenjagd in Toronto. [21] Das Adrenalin steigt und die OLDBOY Crew flitzt über die Dächer von Sankt Petersburg. [22] Sprüher sind Herdentiere: sie entern das Gleisbett zumeist im Rudel. [23] Hier steigen sie mitten am Tag in ein verstecktes Tal hinunter. [24] Von überall her schleichen sie auf Zehenspitzen heran und treten leise aus dem Dunkel hervor. [25] Sie strömen wie die Fliegen zum Licht bzw. zum gelb leuchtenden Dreieck, das hier den Schatz markiert. Tonnenschwere, riesige Schatzkisten hintereinander. [26] Per Handzeichen bekommt nun jeder seinen Abschnitt zugeteilt. Und während sie zur Dose greifen, nehmen sie die weiße Fläche genau in den Blick. Wie bei einem Beamer projizieren sie die eingeübte Skizze über die Augen direkt auf den Zug. Sobald sie zu sprühen beginnen, wird aus dieser Gedankenübertragung eine Liveübertragung. [27] Hier kommt die OLDBOY Crew mit einem sogenannten Wholecar zum Zug: der Schriftzug hat genau die Größe eines Wagons. [28] Diese Jungs sprühen zwar vor Ideen, noch aber ist keine deutliche Form erkennbar. [29] Erst durch fortwährende Übung finden sie über die Jahre zu einer Formsprache, einem Stil, der sprichwörtlich ihren Namen trägt. [30] Die 1UP Crew aus Berlin ist weniger für ihren Style bekannt, umso mehr aber für die ma**ive Verbreitung ihres Namens. [31] Eine Methode, die man tatsächlich als Bomben bezeichnet. Ma**e statt Kla**e. Flächenbombardement mit simplen Blockbuchstaben. [32] Das ist Kyrillisch für CHROM, der Maler stammt aus Bulgarien. [33] Dieser Maler testet kurz die Sprühdose und wird seinem Style jetzt abschließend eine feine, giftgrüne Secondline verpa**en. [34] KATSU aus New York bevorzugt eher forsche Linien [35] im Spritzgussverfahren. [36] Womit wir bei der bekanntesten Spielart von Graffiti angelangt sind, beim Taggen. [37] EXOT von der Berliner PVC Crew tagt allein vor sich hin. [38] Wohingegen Tagger in Sao Paulo meist im Team arbeiten. [39] Dort heißen sie auch nicht Tagger, sondern Pixadores. Ihre speziellen Zeichen nennt man Pixacao. [40] Hier rechts oben der Pixador auf einer Art Freisitz. [41] Ebenfalls rechts im Bild: fünf Pixadores in fünf Stockwerken übereinander. [42] Nachdem sie ihr kleines Stück Stadtland erobert und bezeichnet haben, feiern sie in siegreichen Posen ihren Triumph. Das begehrte Objekt wurde symbolisch gejagt, erlegt und signiert. [43] Jetzt wird die Jagd-Trophäe ausgestellt. Beziehungsweise zugestellt: acht junge Männerkörper posieren vor und auf einem Zug mit dem Stadtwappen von Budapest plus den ungarischen Nationalfarben. Sie haben also gerade die Hauptstadt von Ungarn eingenommen. [44] Im Siegesrausch fallen mit den Hemmungen dann auch so manche Hüllen. [45] Die direkte Berührung mit Zug und Wand – wie hier durch Handauflegen – geht meist mit der deutlichen Darstellung von Erregung einher. [46] Hier als Höhepunkt zum Beispiel ein h*moerotisches Feuerwerk: die Aufführung von fünf symbolischen, gleichzeitigen Orgasmen. [47] Das obligatorische Spiel mit dem Feuer hier in einer Hebefigur des Herkules. Die Graffiti-Styles kommen imaginär als schwere, riesige Felsbrocken zum Tragen. [48] Natürlich kommt man sich dabei auch näher: heiteres Muskelspiel und erste, zaghafte Berührungen in der GHS Crew. [49] Wie Ihr sehen konntet, üben sich die jungen Feldherren heimlich in symbolischem Landraub und symbolischer Kriegsführung. Ob Raub, Mord, Vergewaltigung oder Vertreibung: männliche Kriegsverbrechen werden hier kulturell transformiert und im Verborgenen der Stadt en detail nachgespielt. [50] Im Unterschied zur beispielsweise irakischen Terrormiliz 'Islamischer Staat' ist der Krieg, den diese Untergrundkämpfer führen, völlig gewaltfrei und komplett harmlos. Der AGGRO- Rapper D(E)VO führt die DAMAGERS – die Zerstörer – auf Siegeszug durch Berlin. Um genau zu sein, haben sie abermals ihren Ortsteil Friedenau erobert. Vier Eins Friedenau: Einundvierzig ist die alte Postleitzahl. [51] Jeder neue Tunnel, jede weitere Neuland-Gewinnung verändert die biochemischen und physiologischen Eigenschaften der männlichen Körper und ihres Unbewußten. Ihre neuronalen Netze verbinden sich direkt mit dem Strecken- und Straßennetz der Stadt. Unzählige Nervenbahnen werden wie U-Bahnen oder Autobahnen neu verlegt und ausgebaut. [52] Oder gleich komplett nachgebaut: hier ein Blick aus einem zum Teil besetzten Künstlerhaus in Kreuzberg auf die 'City of Names' von 2005: eine von Graffiti-Sprühern zusammengezimmerte Kleinstadt mit Häusern aus Buchstaben und natürlich mit selbstgebauter U-Bahn. [53] Kommen wir nun zu den Graffiti. Hier zum Beispiel sechs sogenannte Pieces und in der Mitte ein Wholecar von 2003, '4 und '5 in einem Berliner Graffiti-Magazin, der Maler nennt sich TVISD. Sein Name entspricht auch seinem Style, was tatsächlich nicht allzu oft vorkommt. Nur selten gelingt es einem Sprüher, seinen eigenen, wiedererkennbaren Stil auszubilden. [54] Die Style-Pakete von TVISD hingegen entwickeln sich recht beschwingt weiter. Schon 2005 und '6 legt er in kühnen Linien einen deutlich lockeren Hüft-Schwung aufs Gleis. [55] Wie genau sich die polymorphen Strukturen verändern, lässt sich gut am Gesamtwerk eines Sprühers beobachten. Zunächst eine grobe Werkschau der Berliner Legende MR.IX. Hier ein Style aus den ersten Jahren, dieser ist von 1999. [56] Zwei Jahre später, deutlich lesbarer und mit Revolver: der Style als Waffe 2001. [57] Kleiner Zeitsprung: vier Jahre später wird der Style zunehmend abstrahiert. Die Metro in Bukarest 2005. [58] Dünne Outlines und fortgeschrittener Abstraktiongrad 2007. [59] Im Winter 2008: die eisige Dystopie einer zerrissenen Berliner Seele. [60] Als Wurzel-Peter unterwegs durch Berlin 2010. [61] Und zuletzt eine abstrakte Malerei auf dem Hof der Kunstakademie in Berlin Weißensee. [62] Ein zweiter Berliner Maler namens ROGER pflegt schon in jungen Jahren einen fortgeschrittenen Stil: hier sein berühmtes Gesellenstück im Mauerpark 1999. [63] Die nicht minder stolze, aber deutlich abgespeckte Typographie auf einer Brandwandfa**ade von 2005. [64] Schließlich – mit bescheidener Krone – die Inthronisierung im Winter 2008. [65] 2011 ist ein beschwingtes Jahr. [66] 2012 führt durch unruhige Gewässer mit starker Brandung und steifen Brisen. [67] Ein Giftgasanschlag auf kleiner, gelber Stichflamme 2013. [68] Und zuletzt aus diesem Jahr ein Sternnebel, vielleicht die Milchstraße: 2014. Während ROGER im spielerischen Moment brilliert – unermüdlich als Tüftler, Tänzer oder Komponist –, [69] zeigt gerade der späte MR.IX schonungslos die kra**en Brüche und Wundmale einer zerschundenen Männlichkeit. [70] Von '95 bis 2012 hatte Berlin eine sehr hohe Graffiti-Dichte. Die Diversität des Berliner Styles reichte entsprechend [71] vom misanthropischen CLINT176 [72] über FISO den freundlichen [73] bis zur scharfen Klinge PEPS. [74] Hier ein verrücktes KASE, [75] dort die Feuerlöscher-Tags von BERTO und THRILL. Nicht nur Berlin, sondern weltweit erobern die schnellen Schriftzüge Straßen, Stadtteile und Verkehrssysteme. [76] Abschließend deshalb ein paar großflächige Styles, die vor allem den Aspekt der Landnahme noch einmal verdeutlichen sollen: [77] Das bisher weltweit größte Bombing der MTA Crew in der Los Angeles River Bank. [78] Hier in der Nahaufnahme zum Größenvergleich: vor dem linken Balken vom A haben zwei Geländewagen geparkt. Jeder dieser Buchstaben war 200 Meter lang. Die volle Fläche maß 600 Meter in der Länge und 60 Meter in der Höhe. [79] 2009 wurden sie von der Stadt gebufft, also mit grauer Farbe übermalt. In der Vogelperspektive wird ein Stück Land in bester Innenstadt-Lage sichtbar. [80] Ist das Grundstück bereits bebaut, wird die komplette Immobilie bemalt, wie hier – von der ORG Crew – im ostdeutschen Leipzig. [81] Wie auf Häusern, so auf Zügen: wir sehen sieben Großbuchstaben verteilt auf acht Waggons des gesamten Zuges: WUFC und SDK steht dort geschrieben, zwei Crewnamen auf einem Wholetrain bei der Einfahrt in die Hauptstadt von Schweden. [82] Und zurück in der Berliner U-Bahn: ein sogenannter Married Couple, ein Doppel-Wholecar von BAD und DRS, in dem man auch mitfahren kann. [83] Das drängende Begehren, möglichst viel Land einzunehmen, richtet sich erstens: auf das fremde Territorium – abgezäunt, verboten und schwer zugänglich – und zweitens auf die Oberfläche der begehrten Objekte, also die von Zügen und Wänden. Zum Ausdruck kommt es als stilistisches Gebilde, eine Art verstohlenes Gemälde der inneren Landschaft; das codierte Moment des sich entfaltenden, männlichen Bewusstseins. Graffiti-Styles sind die symbolischen Berge individualisierter Männlichkeit, die jeder Sprüher für sich allein zu bezwingen sucht. [84] In den verbleibenden Minuten möchte ich noch auf eine vierte Art von symbolischem Landraub eingehen, die für das vergleichsweise recht junge Phänomen Graffiti-on-Girls ursächlich ist. [85] Nicht nur im Krieg werden Frauen bis heute vergewaltigt, missbraucht, entführt oder zwangsverheiratet, das geschieht täglich auch in jedem der freiheitlich demokratischen Länder dieser Welt. [86] In der von männlichen Kolonisten dominierten Graffiti-Welt stürzt sich der maskierte Eroberer auf das Neuland fremder Gebiete und das Flachland lebloser Züge und Wände – das wichtigste Objekt seiner Begierde aber ist der Körper der Frau, deren Haut- und Oberfläche: das weibliche Körperland. [87] Er will diesen Körper mit seinem Namen bedecken, ihn jagen, bezeichnen und zur Schau stellen. [88] Nur als Fetisch kann die Frau hier überleben, als Kunstwerk ohne Gesicht, ohne Namen, ohne Identität. “Als Ding“, wie Metz und Seeßlen sagen, “das man haben kann und doch nicht haben kann.“ [89] Hier kommt der Körper der Frau zum Beispiel als bemalter Zug in einem Gleisbett zur Aufführung. Sie wurde soeben von einer Ladung Graffiti-Schleim getroffen. [90] Der Gewaltakt gegen die Frau wurde zuerst in der p**nographie kulturell transformiert und entschärft. Dort wird er bis heute als extrakorporale Ejakulation inszeniert: der Mann zieht sich aus der Frau zurück und ergießt sich stattdessen gut sichtbar auf ihren Körper. Hier die Facial-Cum-Shot-Version der Graffiti-Szene. [91] Zusammengefa**t: die chauvinistische, aber nahezu gewaltfreie Graffiti-Kultur ersetzt erstens: den kompletten Penetrationsakt, und zweitens: statt Sperma werden jetzt Farbe und Buchstaben vergossen. Und großflächig verteilt, hier zum Beispiel vier Frauenkörper als Mauerwerk in Los Angeles. [92] Auch die Dose symbolisiert unter anderem den weiblichen Körper. [93] In der Vorstellung eines Pariser Sprühers werden aus dem Frauenkopf zwei Sprühkopfe. [94] Die Frauen werden bemalt, glorifiziert, fetischisiert und ihrer Identität beraubt, dürfen trotz allem aber noch immer nicht mitspielen. Weder anonym noch unter Pseudonym. Ihre offenkundige Abwesenheit scheint seit jeher erwünscht zu sein. Auf dieser frühen Stufe männlicher Selbstwerdung vielleicht sogar notwendig. [95] Beschließen wir den Vortrag mit dem Photo einer Dame, deren Körper uns endlich das tiefe Geheimnis der begehrten Weiblichkeit offenbart: Frauen bestehen vollständig aus Graffiti! Vielen Dank!" Christoph Fuchs / Leipzig 2014