Annette von Droste-Hülshoff - Gemüt und Leben - Kapitel 3 lyrics

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Annette von Droste-Hülshoff - Gemüt und Leben - Kapitel 3 lyrics

Carpe diem! Pflücke die Stunde, wär' sie noch so blaß, Ein falbes Moos, vom Dunst des Moores naß, Ein farblos Blümchen, flatternd auf der Heide; Ach, einst von allem träumt die Seele süß, Von allem, was, ihr eigen, sie verließ, Und mancher Seufzer gilt entflohnem Leide. In Alles senkt sie Blutes Tropfen ein, Legt Perlen aus dem heilig tiefsten Schrein Bewußtlos, selbst in grauverhängte Stunden; Steigt oft ein unklar Sehnen dir empor, Du schaust vielleicht, wie durch Gewölkes Flor, Nach Tagen, längst vergessen, doch empfunden. Wer, der an seine Kinderzeit gedenkt, Als die Vokabeln ihn in Not versenkt, Wer möchte nicht wieder Kind sein und sich grauen? Ja, der Gefangene, der die Wand beschrieb, Fühlt er nach Jahren Glückes nicht den Trieb, Die alten Sprüche einmal noch zu schauen? Wohl gibt es Stunden, die so ganz verhaßt, Daß, dem Gedächtnis eine Centnerlast, Wir ihren Schatten abzuwälzen sorgen; Doch selten schickt sie uns des Himmels Zorn, Und meistens ist darin ein gift'ger Dorn, Der Moderwurm geheimer Schuld verborgen. Drum, wer noch eines Blicks nach oben wert, Der nehme, was an Lieben ihm beschert, Die stolze wie die Stund' im schlichten Kleide; Der schlürfe jeden stillen Tropfen Tau, Und spiegelt drin sich nicht des Äthers Blau, So lispelt drüber wohl die fromme Weide. Freu dich an deines Säuglings Lächeln, freu Dich an des Jauchzens ungewissem Schrei, Mit dem er streckt die lustbewegten Glieder. Wär' zehnmal stolzer auch, was dich durchweht, Wenn er vor dir dereinst, ein Jüngling, steht, Dein lächelnd Kindlein gibt er dir nicht wieder. Freu dich des Freundes, eh zum Greis er reift, Erfahrung ihm die kühne Stirn gestreift, Von seinem Scheitel Grabesblumen wehen; Freu dich des Greises, schau ihm lange nach, In kurzem gäbst vielleicht du manchen Tag, Um einmal noch das graue Haupt zu sehen. O, wer nur ernst und fest die Stund greift, Den Kranz ihr auch von bleicher Locke streift, Dem spendet willig sie die reichste Beute. Doch wir, wir Toren, drängen sie zurück, Vor uns die Hoffnung, hinter uns das Glück, Und unsre Morgen morden unsre Heute.