Aber er
meinte das ernst, Leute!
Ich hätte ihn noch eine Weile durch den Ring treiben können, aber ich beschloß, sofort
meine schärfste Waffe einzusetzen. Ich überlegte kurz und schoß dann folgendes Ding
ab: Man kann zum Vorteile der Regeln viel sagen, ungefähr was man zum Wohle der
bürgerlichen Gesellschaft sagen kann. Ein Mensch, der sich nach ihnen bildet, wird nie
etwas Abgeschmacktes und Schlechtes hervorbringen, wie einer, der sich durch
Gesetze und Wohlstand modeln läßt, nie ein unerträglicher Nachbar, nie ein
merkwürdiger Bösewicht werden kann; dagegen wird aber auch alle Regel, man rede,
was man wolle, das wahre Gefühl von Natur und den wahren Ausdruck derselben
zerstören! Dieser Werther hatte sich wirklich nützliche Dinge aus den Fingern gesaugt.
Ich sah sofort, daß ich die Fäuste runternehmen konnte. Der Mann hatte nichts mehr zu
bestellen. Charlie hatte ihn mindestens auf allerhand vorbereitet, aber das war zuviel
für ihn. Er tat zwar so, als hätte er es mit einem armen Irren zu tun, den man
keinesfalls reizen darf, bloß damit konnte er mich nicht täuschen. Jeder vernünftige
Trainer hätte ihn aus dem Kampf genommen. Technischer K. o. Charlie wollte denn
auch gehen. Aber Dieter hatte noch was: Andererseits ist es recht originell, was er da
macht, und auch dekorativ.
Ich weiß nicht, was er sich dabei dachte. Wahrscheinlich glaubte er, er hätte mich
ausgeknockt, und wollte mir jetzt die Pille versüßen! Du armer Arsch! Der Mann tat
mir leid. Ich ließ ihn gehen. Blöderweise fiel ihm in dem Moment dieser Schattenriß
ins Auge, den ich seinerzeit von Charlie gemacht hatte. Charlie sagte sofort: Das sollte
für dich sein. Er hat ihn mir bloß nicht gegeben. Angeblich, weil er noch nicht fertig
war. Bloß gemacht hat er nichts daran seitdem.
Und Dieter: Ich hab dich ja jetzt in natura. Leute! Das sollte wahrscheinlich charmant
sein. Das war ein Charmebolzen, der liebe Dieter. Dann zogen sie ab. Charlie hing die
ganze Zeit an seinem Hals. Ich meine, nicht wirklich. Mit ihren Scheinwerfern. Damit
ich es bloß sah. Aber das lief ab an mir wie Wa**er. Nicht daß einer denkt, ich hatte
was gegen Dieter, weil er von der Armee kam. Ich hatte nichts gegen die Armee. Ich
war zwar Pazifist, vor allem, wenn ich an die unvermeidlichen achtzehn Monate
dachte. Dann war ich ein hervorragender Pazifist. Ich durfte bloß keine Vietnambilder
sehen und das. Dann wurde mir rot vor Augen. Wenn dann einer gekommen wäre,
hätte ich mich als Soldat auf Lebenszeit verpflichtet. Im Ernst. Zu Dieter will ich noch
sagen: Wahrscheinlich war er ganz pa**abel. Es konnte schließlich nicht jeder so ein
Idiot sein wie ich. Und wahrscheinlich war er sogar genau der richtige Mann für
Charlie. Aber es hatte keinen Zweck, darüber nachzudenken. Ich kann euch nur raten,
Leute, in so einer Situation nicht darüber nachzudenken. Wenn man gegen einen
Gegner antritt, kann man nicht darüber nachdenken, was er für ein sympathischer
Junge ist und so. Das führt zu nichts.Ich griff nach dem Mikro und teilte Willi den
neusten Stand der Dinge mit: Er will mir wohl, und ich vermute, das ist Lottens Werk
..., denn darin sind die Weiber fein und haben recht; wenn sie zwei Verehrer in gutem
Vernehmen miteinander erhalten können, ist der Vorteil immer ihr, so selten es auch
angeht. Ende.
Langsam gewöhnte ich mich an diesen Werther, aber ich mußte den beiden nach. Ich
wußte, daß man dranbleiben muß, Leute. Die erste Runde kann an dich gehen, aber
dann am Gegner dranbleiben. Ich wetzte hinter ihnen her und hängte mich einfach mit
rein. »Ich bringe euch noch«, in diesem Stil. Charlie hing an Dieters Arm. Den ändern
gab sie fast sofort mir. Ich wurde beinah nicht wieder. Ich mußte sofort an Old
Werther denken. Der Mann wußte Bescheid. Dieter sagte keinen Ton.
Wir landeten auf Dieters Bude. In einem Altbau. Ein Zimmer und Küche. Das war das
aufgeräumteste Zimmer, das es überhaupt geben konnte. Mutter Wibeau hätte ihre
Freude dran gehabt. Es war ungefähr so gemütlich wie der Wartesaal auf dem Bahnhof
Mittenberg. Bloß, der war wenigstens nie aufgeräumt. Das konnte ich leiden. Ich weiß
nicht, ob das einer kennt,
diese Zimmer, die ewig so aussehen, als sind sie nur zwei Tage im Jahr bewohnt und
dann vom Chef der Hygieneinspektion. Und das schönste war: Charlie dachte plötzlich
genau da**elbe. Sie sagte: Das wird hier alles anders. Laß uns erst mal heiraten, ja?
Ich fing mit einer Art Stubendurchgang an. Zuerst nahm ich mir die Bilder vor, die er
hatte. Das eine war ein mieser Druck von Old Goghs Sonnenblumen. Ich hatte nichts
gegen Old Gogh und seine Sonnenblumen. Aber wenn ein Bild anfängt, auf jedem
blöden Klo rumzuhängen, dann machte mich das immer fast gar nicht krank.
Bestenfalls tat es mir dann ekelhaft leid. Meistens konnte ich es für den Rest meines
Lebens nicht mehr ausstehen. Das andere war in einem Wechselrahmen. Ich will
nichts weiter darüber sagen. Wer es kennt, weiß, welches ich meine. Ein echtes
Brechmittel, im Ernst. Dieses prachtvolle Paar da am Strand. Überhaupt:
Wechselrahmen. Wenn ich alle Bilder der Welt sehen will, geh ich ins Museum. Oder
mir geht ein Bild an die Nieren, dann häng ich es mir dreimal ins Zimmer, damit ich es
von überall sehen kann. Wenn ich Wechselrahmen sah, dachte ich immer, die Leute
haben sich verpflichtet, im Jahr zwölf Bilder anzusehen.Plötzlich sagte Charlie: Die
Bilder stammen noch aus unserer Schulzeit.
Dabei hatte ich den Mund nicht einmal aufgemacht. Ich hatte auch nicht gestöhnt oder
die »Augen verdreht, nichts. Ich sah mich nach Dieter um. Ich möchte sagen, der
Mann stand in seiner Ecke, hatte die Fäuste unten und bewegte sich nicht. Kann sein,
er hatte noch nicht begriffen, daß die zweite Runde längst lief. Charlie entschuldigte
sich ständig für ihn, und er bewegte sich nicht. Leute, ich wußte jedenfalls, was ich zu
tun hatte. Als nächstes nahm ich mir seine Bücher vor. Er hatte die Ma**e. Alles unter
Glas. Alle der Größe nach geordnet. Ich sackte zusammen. Immer wenn ich so was
sah, sackte ich zusammen. Meine Meinung zu Büchern hab ich wohl schon gesagt. Ich
weiß nicht, was er alles hatte. Garantiert alle diese guten Bücher. Reihenweise Marx,
Engels, Lenin. Ich hatte nichts gegen Lenin und die. Ich hatte auch nichts gegen den
Kommunismus und das, die Abschaffung der Ausbeutung auf der ganzen Welt.
Dagegen war ich nicht. Aber gegen alles andere. Daß man Bücher nach der Größe
ordnet zum Beispiel. Den meisten von uns geht es so. Sie haben nichts gegen den
Kommunismus. Kein einigermaßen intelligenter Mensch kann heute was gegen den
Kommunismus haben. Aber ansonsten sind sie dagegen. Zum Dafürsein gehört kein
Mut. Mutig will aber jeder sein. Folglich ist er dagegen. Das ist es. Charlie sagte:
Dieter wird Germanistik studieren. Er hat eine Menge aufzuholen. Andere, die nicht so
lange bei der Armee waren, sind längst Dozenten heute.
Ich sah Dieter an. Spätestens jetzt wäre ich an seiner Stelle losgegangen. Aber er hatte
immer noch die Fäuste unten. Eine hervorragende Situation. Langsam begriff ich, daß
es zu einem ungeheuren Bums kommen mußte, wenn ich so weitermachte und wenn
Charlie nicht aufhörte, sich für ihn zu entschuldigen. Das einzige in dem ganzen
Zimmer war noch Dieters Luftgewehr, ein Knicklauf. Er hatte es über das Bett
gehängt. Ich holte es lässig runter, ohne zu fragen, und fing an damit rumzufummeln.
Ich hielt die Spritze auf dieses Paar am Strand, auf Dieter, auf Charlie. Bei Charlie
kam Dieter endlich in Bewegung. Er drehte mir den Lauf weg.
Ich fragte: Geladen?
Und Dieter: Trotzdem. Ist schon zu viel vorgekommen.
Solche Opa-Sprüche brachten mich immer fast gar nicht um. Trotzdem sagte ich
nichts. Ich hielt mir bloß den Lauf an die Schläfe und drückte ab. Das brachte ihn
endlich aus der Reserve: Das Ding ist kein Spielzeug! Soviel Grips wirst du doch
haben!
Dabei riß er mir die Flinte aus der Hand. Ich ließ sofort meine schärfste Waffe
sprechen, Old Werther:
Mein Freund ..., der Mensch ist Mensch, und das bißchen Verstand, das einer haben
mag, kommt wenig oder nicht in Anschlag, wenn Leidenschaft wütet und die Grenzen
der Menschheit einen drängen. Vielmehr - Ein andermal davon.
Die Grenzen der Menschheit, unter dem machte es Old Werther nicht. Aber ich hatte
Dieter voll getroffen. Er machte den Fehler, darüber nachzudenken. Charlie hörte gar
nicht mehr hin. Aber Dieter machte den Fehler nachzudenken. Ich konnte an sich
gehen. Da fing Charlie an: Ich mach uns noch was zu schnabulieren, ja? Und Dieter:
Von mir aus! Aber ich hab zu tun. Er war in Fahrt. Er pflanzte sich hinter seinen
Schreibtisch. Mit dem Rücken zu uns. Charlie: Er hat in drei Tagen Aufnahmeprüfung.
Charlie hatte wohl einen schlechten Tag. Sie konnte es nicht la**en. Ich stand immer
noch rum.
In dem Moment ging Dieter in die Luft. Er sagte eisig: Kannst ihm ja unterwegs noch
was von mir erzählen.
Charlie wurde bleich. Das war ein glatter Rauswurf für uns beide. Ich hatte sie in eine
herrliche Lage gebracht, ich Idiot freute mich noch. Charlie war bleich, und ich Idiot
stand da und freute mich noch. Dann ging ich. Charlie kam mir nach. Auf der Straße
kriegte ich es, fertig, den Arm um ihre Schultern zu legen.
Charlie boxte mir sofort in die Rippen und fauchte mich an: Bist du noch normal, ja?
Darin rannte sie weg. Sie rannte weg, aber ich kam in eine völlig verrückte Stimmung.
Ich begriff zwar langsam, daß ich bei Charlie vorläufig nichts zu bestellen hatte.
Trotzdem war ich irgendwie echt high. Jedenfalls stand ich plötzlich vor meiner Laube
und hatte ein Band von Old Willi in den Pfoten. Folglich mußte ich auf der Post
gewesen sein. Ich weiß nicht, ob einer so was kennt, Leute.
Lieber Edgar. Ich weiß nicht, wo du bist. Aber wenn du jetzt zurückkommen willst,
der Schlüssel liegt unter dem Fußabtreter. Ich werde dich nichts fragen. Und ab jetzt
kannst du nach Hause kommen, wann du willst. Und wenn du deine Lehre in einem
anderen Betrieb fertig machen willst, auch. Hauptsache, du arbeitest und gammelst
nicht.
Ich dachte, mich tritt ein Pferd. Das war Mutter Wibeau.
Dann kam Willi: Salute, Eddie. Ich hab deine Mutter einfach nicht abwimmeln
können. Tut mir leid. Sie ist ganz schön am Boden. Sie wollte mir sogar Geld geben
für dich. Vielleicht ist der Gedanke mit dem Arbeiten gar nicht so schlecht. Denk mal
an van Gogh oder einen. Was die alles machen mußten, um malen zu können. Ende.
Ich hörte mir das an. Ich wußte sofort, was von Old Werther darauf paßte : Das war
eine Nacht! Wilhelm! nun überstehe ich alles. Ich werde sie nicht wiedersehn!... Hier
sitz ich und schnappe nach Luft, suche mich zu beruhigen, erwarte den Morgen, und
mit Sonnenaufgang sind die Pferde... Länger war das Band blöderweise nicht, und ich
hatte keinen Nachschub mehr. Ich hätte ein Stück Musik löschen müssen, aber das
wollte ich nicht. Aus der Bude gehen und neues Band ranschaffen wollte ich auch
nicht. Ich an*lysierte mich kurz und begriff, daß die ganze Kolchose und das. nicht
mehr popte. Ich dachte nicht daran, zurück nach Mittenberg zu gehen, das nicht. Aber
es popte einfach nicht mehr.
»Aber irgendwann muß Edgar dann doch angefangen haben zu arbeiten, beim Bau.
Beim WIK.«
»Ja, sicher. Ich hab ihn dann einfach aus den Augen verloren. Ich hatte genug eigene
Dinge. Die Hochzeit. Dann fing Dieter an zu studieren. Germanistik. Es fiel ihm nicht
ganz leicht zu Anfang. Ich arbeitete nur noch halbtags, um ihm den Start zu
erleichtern. Dann zogen wir mit dem Kindergarten in den Neubau um, das alte Haus
kam weg, wegen der Neubauten, auch der Auslauf neben Edgars Grundstück. Wir
hätten einfach zur Polizei gehen sollen. Da wohnt einer unerlaubt in einer Laube. Ich
weiß '• nicht, ob ihm das geholfen hätte. Jedenfalls wäre es dann nicht pa**iert.« »Darf
ich Sie etwas fragen? - Haben Sie Edgar gemocht?«
»Wie gemocht? Edgar war noch nicht achtzehn, ich war über zwanzig. Ich hatte
Dieter. Das war alles. Was denken Sie?«
Richtig, Charlie, nicht alles sagen. Es hat keinen Zweck, alles zu sagen. Ich hab das
mein Leben lang nicht gemacht. Nicht mal dir hab ich alles gesagt, Charlie. Man kann
auch nicht alles sagen. Wer alles sagt, ist vielleicht kein Mensch mehr.
»Sie müssen mir nicht antworten.« »Gemocht hab ich ihn natürlich. Er konnte sehr
komisch sein. Rührend. Er war immerzu in Bewegung .. . ich ...«
Heul nicht, Charlie. Tu mir den Gefallen und heul nicht. Mit mir war nicht die Bohne
was los. Ich war bloß irgend so ein Idiot, ein Spinner, ein Angeber und all das. Nichts
zum Heulen. Im Ernst.
»Guten Tag! Ich soll mich an Kollegen Berliner wenden.« »Ja. Das bin ich.« »Wibeau
ist mein Name.« »Haben Sie was mit Edgar zu tun? Edgar Wibeau, der bei uns war?«
»Ja. Der Vater.«
Addi! Alte Streberleiche! Ich grüße dich! Du warst von Anfang an mein bester Feind.
Ich hab dich getriezt, wo ich konnte, und du hast mich geschurigelt, wenn es irgendwie
ging. Aber jetzt, wo alles vorbei ist, kann ich es rausla**en: Du warst ein Steher!
Unsere unsterblichen Seelen
waren verwandt. Bloß deine Gehirnwindungen waren rechtwinkliger als meine.
»Das war eine tragische Sache mit Edgar. Erst waren wir ziemlich am Boden. Heute
ist uns vieles klarer. Edgar war ein wertvoller Mensch.«
Addi, du enttäuschst mich, und ich dachte, du bist ein Steher. Ich dachte, du machst
das nicht mit, über einen, der über den Jordan gegangen ist, diesen Mist zu reden. Ich
und ein wertvoller Mensch. Schiller und Goethe und die, das waren vielleicht
wertvolle Menschen. Oder Zaremba. Es hat mich sowieso zeitlebens immer fast gar
nicht getötet, wenn sie über einen Abgegangenen dieses Zeug redeten, was er für ein
wertvoller Mensch war und so. Ich möchte wissen, wer das aufgebracht hat.
»Wir haben Edgar leider von Anfang an falsch angefaßt, einwandfrei. Wir haben ihn
unterschätzt, vor allem ich als Brigadeleiter. Ich hab in ihm von Anfang an nur den
Angeber gesehen, den Nichtskönner, der nur auf unsere Knochen Geld verdienen
wollte.«Klar wollte ich Geld verdienen! Wenn einer keine Tonbänder mehr kaufen
kann, muß er Geld verdienen. Und wo geht er in diesem Fall hin? Zum Bau. Motto:
Wer nichts will und wer nichts kann, geht zum Bau oder zur Bahn. Bahn war mir zu
gefährlich. Da hätten sie garantiert nach Ausweis und Aufenthaltsgenehmigung gefragt
und dem Käse. Also Bau. Auf dem Bau nehmen sie jeden. Das wußte ich. Sauer war
ich bloß, als ich zu Addi und Zaremba und der Truppe reinkam, sie renovierten olle
Berliner Wohnungen, immer gleich hausweise, und Addi sagte sofort: »Morgen«, sagt
man, wenn man reinkommt!
Den Typ kannte ich. Frag so einen mal nach Salinger oder einem. Da kommt garantiert
nichts. Da denkt er, das ist ein Fachbuch, das ihm entgangen ist.
Vielleicht war alles anders gekommen, wenn Addi an dem Tag blaugemacht hätte oder
was. Auf die Art war ich natürlich gleich kontra. Kann auch sein, daß meine Nerven
nicht die besten waren zu der Zeit, wegen der Sache mit Charlie. Es ging mir doch
mehr an die Nieren als ich gedacht hatte.
Das nächste, was Addi machte, war, daß er mir eine von diesen Malerrollen hinhielt
und mich
fragte, ob ich so was schon mal in der Hand gehabt habe. Jeder Pionier kennt diese
Dinger. Folglich verweigerte ich glatt die Aussage. Danach hielt er mir einen Pinsel
hin und schickte mich zu Zaremba. Fenster vorstreichen. Alle glotzten natürlich, wie
ich mich anstellen würde. Aber mir wurde sofort besser, als ich Zaremba sah.
Sozusagen Liebe auf den ersten Blick. Ich sah sofort, der Alte war ein Vieh. Zaremba
war über siebzig. Er konnte längst auf Rente sein, aber er rackerte hier noch rum. Und
nicht etwa als Lückenbüßer. Er konnte sich eine Bockleiter zwischen die Beine
klemmen und damit regelrecht durch die Stube tanzen und wurde nicht die Bohne naß
dabei. Abgesehen davon, daß er sowieso nur aus Haut, Knochen und Muskeln bestand.
Wo sollte da Wa**er herkommen. Einer seiner Tricks war, sich von jemand ein offenes
Taschenmesser auf den Bizeps fallen zu la**en. Es sprang weg wie aus Gummi. Oder
er spielte den Glöckner von Notre-Dame. Dazu nahm er ein Auge raus, er hatte ein
Glasauge, knickte in der Hüfte ein und wa*kte durch die Gegend. Wir lagen
regelmäßig am Boden. Das Glasauge hatte er sich in Spanien eingehandelt. Das heißt:
Gemacht hatte es ihm einer in Philadelphia. Außerdem fehlten ihm noch ein Stück von
einem kleinen Finger und zwei Rippen. Dafür hatte er noch alle Zähne und beide
Arme und die Brust voll Tätowierungen. Aber nicht diese dicken Weiber und Herzen
und das und Anker. Das wimmelte bloß so von Fahnen, Sternen und Hammer und
Sichel, da war sogar ein Stück Kremlmauer. An sich war er wohl aus Böhmen oder so.
Aber das schönste war, daß er es noch mit Frauen hatte. Ich weiß nicht, ob das einer
glaubt, es war aber Tatsache. Zaremba betreute unseren Bauwagen. Er machte da
sauber und hatte immer den Schlüssel. Es war ein ziemlich schmuckes Fahrzeug. Mit
zwei Kojen und allem Drum und Dran. Einmal, es war schon dunkel, schlich ich mich
da ran. Ich wußte bis dahin gar nichts, sondern ich hatte aus einem ganz bestimmten
Grund etwas unter dem Wagen zu machen. Da hörte ich deutlich, wie er eine Frau am
Wickel hatte. Ihrem Lachen nach muß sie sehr nett gewesen sein. Es soll aber keiner
denken, ich wäre Zaremba wegen alledem gleich um den Hals gefallen. Das nun nicht.
Schon nicht, weil er mich als erstes fragte, ob ich mit der Gewerkschaft auf dem
laufenden wäre. Er war Ka**ierer. Das tötete mich immer fast gar nicht. Wenn es nicht
Zaremba gewesen wäre, hätte ich sofort kehrtgemacht. So hielt ich ihm kurz mein
Buch hin. Er nahm es mir weg und fing an es durchzuschnüffeln. Wahrscheinlich
wollte er nur Bescheid wissen über mich. Natürlich hatte ich in Berlin nicht bezahlt.
Sofort hatte er seine komische Blechschachtel draußen, und ich sollte nachzahlen.
Kunststück, wenn einer nicht mal Tonbänder kaufen kann. Wahrscheinlich wollte er
das nur wissen.
Dann fing ich also an, freiweg eins von diesen Fenstern vorzustreichen. Die Farbe lief
nur so über das Glas. Ich hatte zu Hause x-mal die Fenster gestrichen, aber ich brachte
es einfach nicht anders fertig. Hätten sie nicht so geglotzt, wie ich mich anstelle, hätte
ich das sauberste Fenster hingelegt. Nicht so sauber wie Zaremba. Zaremba malte wie
eine Maschine. Aber so sauber wie irgendein anderer von ihnen immer noch,
einschließlich Addi. Addi wurde sichtlich nervös. Er ging bloß deshalb nicht gleich in
die Luft, weil ja Zaremba neben mir war. Daß ich Zaremba nicht aus der Ruhe bringen
würde, war mir ziemlich schnell klar. Er sah mich gar nicht. Jedenfalls hielt es Addi
nicht mehr aus und keifte los: Ich würde das ganze Fenster zuschmieren!
Was ich machte, ist wohl klar. Ich fing an, das ganze Fenster zuzuschmieren. Ich
dachte, Addi fällt von der Leiter. Aber dann fiel ich fast von der Leiter, wenn ich auf
einer gewesen wäre. Direkt neben mir fing Zaremba plötzlich an zu singen! Ich dachte,
mich tritt ein Pferd und streift ein Bus und alles zusammen. Zaremba dröhnte, und die
anderen machten fast sofort mit, und zwar nicht irgendeinen Schlager oder was,
sondern eins von diesen Liedern, von denen man immer nur die erste Strophe kennt.
Aber diese Truppe dröhnte den ganzen Song runter. Ich glaube: Auf, Sozialisten,
schließt die Reihen. Die Trommel ruft, die Fahnen wehn... Das war eine Truppe,
Leute! Auf, Sozialisten! Mir fiel fast der Pinsel aus den Pfoten. Das war so Zarembas
Methode, wenn der liebe Addi in die Luft gehen wollte. Das stellte sich bei der
nächsten Gelegenheit heraus. Es war in irgendeiner ollen Küche. Die Wand war da
ziemlich rissig, und ich sollte sie ausgipsen. Sagte Addi: Gelegentlich mit Gips zu tun
gehabt? - Dann sieh dir mal die Wand an. In diesem Stil.
Ich fing also an, in irgendeinem Eimer Gips anzurühren. Ich weiß nicht, wer das kennt,
Leute. Ich nahm jedenfalls zeitlebens immer erst zuviel Wa**er, dann zuviel Gips und
so weiter. Auf diese Art wurde langsam der Eimer voll, und ich
hätte schon ein As sein müssen, wenn das Zeug nicht hart werden sollte. Ich sah schon
ziemlich alt aus, da kam die Rettung. Addi verlor die Nerven. Er fauchte: Ich würde
den ganzen Eimer voll machen.
Was Besseres fiel ihm nicht ein. Ich parierte natürlich aufs Wort und kippte den
ganzen Gips in den Eimer. Fast in derselben Sekunde fing Zaremba zu singen an. Er
konnte uns gar nicht sehen aus dem Klo oder wo er gerade steckte. Aber er mußte es
wohl gerochen haben, was los war. Es war wieder so eine Schote, diesmal mit
Partisanen, und wieder zog die ganze Truppe mit. Er hatte sie gut im Griff. Addi riß
sich fast sofort zusammen und schickte mich in eins der Zimmer, den Boden fegen,
wegen Vorstreichen. Ich an seiner Stelle hätte mir wahrscheinlich den ganzen ollen
Eimer mit dem Gips über die Bonje gekippt. Aber Addi riß sich zusammen. Da ging
mir das Licht auf, was es mit dem Gesinge auf sich hatte. Ich schob ab. Ich war bloß
gespannt, was Zaremba machen würde, wenn ich ihm selber so kam. Ob er da auch
singen würde. Vorher hörte ich noch, wie Zaremba zu Addi in die Küche tobte und ihn
anknurrte: Mußt ruhiger werden, Kerl. Viel ruhiger. No? Und Addi: Sag mir mal, was
der bei uns will?Der will doch bloß auf unsere Knochen Geld verdienen, einwandfrei.
Die Flasche, die. Und Zaremba machte: No ... Flasche?! Ich sagte wohl schon, daß
Zaremba aus Böhmen war. Deswegen wohl dieses »no«. Er brachte es in jedem Satz
mindestens dreimal unter. Der Mann konnte mit diesem »no« mehr sagen als andere in
ganzen Romanen. Sagte er: No? und legte dabei den Kopf schräg, hieß das: Darüber
denk noch mal nach, Kollege! Machte er: No?! und zog dabei seine Filzbrauen hoch,
hieß das: Das sag nicht noch mal, Kumpel! Kniff er dabei seine Schweinsritzen zu,
wußten alle, jetzt bringt er gleich den Glöckner von Notre-Dame. Ich weiß nicht, ob es
stimmt. Irgendeiner hatte mir erzählt, Zaremba soll gleich nach fünfundvierzig für drei
Wochen Oberster Richter oder so von Berlin gewesen sein. Er soll ganz ulkige und
ganz scharfe Urteile gefällt haben. No? Herr Angeklagter, Sie waren also schon immer
ein großer Freund der Kommunisten, he-rich?! In dem Stil. »Herich«, das war auch so
ein Wort von ihm. Ich brauchte ewig, bis ich kapiert hatte, daß »herich« »hör ich«
heißt. Zaremba war schon ein Vieh.
Ich weiß nicht, ob er genug vom Singen hatte oder ob er einsah, daß ich und Addi
nicht zurechtkamen. Jedenfalls fing er an, mir die Aufträge zu geben. Das erste war,
daß ich in irgendeinem ollen Klo das Paneel oder vielmehr das, was über dem Paneel
kommt, tünchen sollte und die Decke. Er ließ mich allein dabei, und ich mixte mir die
schönste blaue Soße und fing an, mit der Rolle die Wände und die Decke zu verzieren,
und zwar auf diese Pop-art. Am Ende sah das aus wie eine Serie von Entwürfen für
Autobahnschleifen. Und das alles schön blau. Ich war noch gar nicht ganz fertig, da
stand Zaremba da und der Rest der Truppe hinter ihm. Sie waren wahrscheinlich
höllisch gespannt, was er jetzt mit mir anstellen würde, vor allem Addi. Aber er
machte bloß: No?! Das war wohl das längste »no«, was ich je von ihm gehört habe.
Außerdem legte er dabei noch den Kopf schräg, zog die Filzbrauen hoch und kniff
seine Schweinsritzen zu. Ich hätte mich beölen können. Ich bin heute noch stolz auf
diese neue »no«-Variante.
»Klar, er benahm sich komisch. Einwandfrei. Aber ebendas hätte Uns stutzig machen
müssen, vor allem mich. Statt dessen jagte ich ihn weg, daran konnte auch Zaremba
nichts ändern. Zaremba war vielleicht der einzige von uns, der ahnte, was in Edgar
steckte. Aber ich war wie vernagelt. Es ging um unser NFG, nebelloses
Farbspritzgerät. Wir hatten schon mehrere Sachen gebaut, aber das sollte unsere größte
werden. Ein Gerät, das Farben jeder Art versprüht, ohne daß dieser unverträgliche
Farbnebel entsteht, der bis jetzt noch bei jedem Gerät dieser Art auftritt. Das wäre eine
einmalige Sache gewesen, sogar auf dem Weltmarkt. Leider waren wir damals ins
Stocken gekommen damit. Nicht mal Experten, die wir schließlich ranholten, kamen
damit weiter. Und in dieser Situation stellte sich Edgar hin und machte Bemerkungen.
Da platzte mir leider der Kragen. Ich will mich nicht entschuldigen. Ich war einfach
nicht voll da.«
Jetzt tu mir einen Gefallen, Addi, und halt endlich die Luft an damit. Was in mir
steckte, kann ich dir genau sagen: nichts. Und in Sachen NFG überhaupt nichts. Deine
Idee mit der Druckluft und der Hohldüse war nichts, und meine Idee mit der Hydraulik
war auch nichts. Also wozu das Geplärre. Ich gebe zu, daß ich mir von der Hydraulik
allerhand versprochen hatte, eigentlich von Anfang an, kaum daß ich das Ding gesehen
hatte. Es lag da unter unserem Salonwagen rum. Ich war schon mindestens
dreimal darüber gestolpert und hatte es auch schon beschnarcht. Aber ich hätte mir
doch lieber sonstwas abgebissen, als einen danach zu fragen, was das für ein Apparat
war und so. Schon gar nicht Addi. Bis dann eines Tages Zaremba selber den Mund
aufmachte. Ich glaube, dieser Hund sah durch mich durch wie durch Glas. Hast du
noch nicht gesehen, no? Kannst du auch nicht. Ist einmalig. Diese Farbspritze
versprüht Farben jeder Art auf der Erde, im Wa**er und in der Luft, schafft wie drei
Maler am Tag in drei Stunden, no, arbeitet ohne diesen Farbnebel und ist damit allen
vergleichbaren Sachen auf dem Weltmarkt überlegen, selbst amerikanischen, herich. -
Wenn sie erst funktioniert, verstehst, no?