Zweiter Band Kaspar Hauser
Nach dem Steindruck der »Sammlung des Historischen Vereins für Mittelfranken« in Ansbach.
Notizen über Kaspar Hauser von Dr. Julius Meyer
I.
Für die Annahme, daß auf Kaspar Hauser ein Attentat von fremder Hand stattgefunden habe, möchten [Fußnote] folgende meiner Erfahrungen und Beobachtungen sprechen.
a.
Kaspar Hauser hat durch Worte und Gebärden großen Abscheu vor dem Tode ausgedrückt. [Fußnote]
Wenn es die Unterhaltung zuweilen gab, daß man vom Sterben sprach, wenn man z. B. in bezug auf eines oder das andere der Verstorbenen sagte, daß ihm ja eigentlich recht geschehen wäre, daß er auf dieser Welt doch nichts Angenehmes gehabt hätte, daß überhaupt niemand den Tod so sehr fürchten sollte usw., so pflegte er gewöhnlich mit sichtbarem Abscheu zu äußern: »Da sag ich Dank. Sterben mag ich nicht. Ich will recht lange leben!« Besonders ereiferte er sich dann, wenn eines sagte, es machte sich selber nichts daraus, wenn es stürbe.
b.
Er benahm sich schon auffallend ängstlich, wenn mit Messern nur gespielt wurde. [Fußnote]
Ich bin gerne heiter und mache bisweilen gerne kleine Scherze unter den Meinigen. Da geschah's nun einmal, daß ich meine Frau neckte, während ich gerade ein Federmesser in der Hand hatte. Als sie auf mich zueilte und ich zu ihr sagte, sie sollte wegbleiben, damit sie sich nicht stechen möchte, ging er unter ängstlichem Benehmen und mit dem Bemerken, daß er dies nicht sehen und hören könne, schnell beiseite.
Erst ungefähr acht Tage vor seiner unglücklichen Verwundung, als nach geendigtem Mittagessen meine Frau mit einem scharfen und spitzigen Messer in der Hand, durch ein Gespräch veranlaßt, sagte, dies Messer wäre so scharf und spitzig, daß sich damit leicht auch jemand erstechen könnte, stand er sogleich vom Tische auf und ging unter der Äußerung: »So etwas muß man gar nicht sagen« zur Türe hinaus und auf sein Zimmer.
c.
Er zeigte große Empfindlichkeit bei den kleinsten Verletzungen.
Es war zum Verwundern, wie ein kleiner Schnitt, den er sich einmal beim Schneiden eines Apfels mit einem Dessertmesser und ein anderes Mal mit dem Federmesser in einen Finger machte, auf ihn einwirkte, und wie er sich dabei benahm. Er empfand bald Frost, bald Hitze, wurde ziemlich blaß im Gesichte und fühlte sich einen bis zwei Tage unwohl. Dagegen benahm er sich bei einem im Februar 1832 gehabten Zahnschmerze nicht so sehr, und beim Herausnehmen des schadhaften Zahnes, sowie darnach, auch nicht im geringsten auffallend.
d.
Er gab mir auffallende Beweise von der Weichheit seines Gemüts.
Gleich in einer der ersten Stunden des Unterrichts, den ich Kaspar Hauser in der biblischen Geschichte erteilte (es war in der Mitte Dezembers 1831) fing er bei der Geschichte des ersten Brudermords an, auffallend zu weinen. Ich gab ihm zu erkennen, daß ich dieses Gefühl ehre, daß er da**elbe jedoch nicht so sehr unterhalten, sondern sich vielmehr nach Kräften fa**en möge. Er befolgte diesen Wink unmittelbar darauf. Am andern Tage erzählte ich auf meinem Zimmer diese Erscheinung dem Herrn Grafen Stanhope zum Beweis, welch ein gutes und weiches Herz sein Pflegsohn habe. Dieser kam eben zu meiner Erzählung, wurde aber, nachdem er nur erst einige Worte und etwa den Ausdruck unserer Mienen vernommen haben konnte, angewiesen, noch einen Augenblick abzutreten.
Einige Tage darauf, als ich kaum angefangen hatte, auf gewöhnliche Weise von der Noahschen Flut zu sprechen, weinte er wieder. Da mir jedoch diesmal sein Benehmen etwas sehr unnatürlich vorkam, so ignorierte ich es ganz, und diese meine unerwartete Teilnahmslosigkeit überraschte und verdroß ihn so sehr, daß er später in keiner meiner Stunden mehr eine Träne vergoß, wenn ich gleich wirklich rührende Geschichten mit aller Wärme behandelte. [Fußnote]
Ich muß offen gestehen, daß ich gleich damals, und nach und nach immer mehr glaubte, jene Tränen seien erkünstelt gewesen, besonders wenn mir meine eigene, wie die Erfahrung vieler meiner ältern und jüngern Kollegen stets sagte, daß selbst die zartesten Kinder beiderlei Geschlechts bei den hier bezeichneten Geschichten keine Träne weinen.
Meine Frau drückte sich nach dieser meiner Ansicht auch im anliegenden Briefe Nr. 2 an Madame B[iberbach] in N[ürnberg] aus. [Fußnote]
Indessen will ich mich gerne geirrt haben und mit Vergnügen zugeben, daß bei so außerordentlichen Verhältnissen, wie sie Kaspar Hauser gehabt haben soll, auch das Gefühl eine außerordentliche Macht erlangen und sich auf eine ungewöhnliche Weise äußern könne.
Sehr gefühlvoll, und auch bis zu fließenden Tränen gerührt, gratulierte er mir in den ersten Stunden des Jahres 1832 und reihte seinem Wunsche die gewiß kindlichen Worte an: »Bleiben Sie mir recht gut. Ich will Ihnen gewiß recht folgen und fleißig sein.« Über seine Teilnahme und Dienstwilligkeit usw. habe ich mich schon in einem frühern, einer hochlöblichen Gerichtskommission übergebenen Urteil ausgesprochen und beziehe mich hier im allgemeinen auf da**elbe. [Fußnote]
e.
Es schien ihm nie die nötige Gemütsruhe zu fehlen.
Kaspar Hauser zeigte auch in den letzten Tagen vor seiner unglücklichen Verwundung keine eigentliche Unruhe. Denn er ging nicht öfter aus als gewöhnlich und arbeitete auf seinem Zimmer so lange fort wie sonst. Im Umgange war er unbefangen, und man hörte von ihm nicht die geringste Klage oder Besorgnis, und ebensowenig wurde eine ganz besondere Unzufriedenheit oder Ängstlichkeit an ihm wahrgenommen. Die letzten 10 bis 12 Tage war er zwar ernster und zurückhaltender als gewöhnlich, allein dies konnte mir darum nicht so sehr auffallen, weil er während seines Aufenthalts bei mir früher schon einige solche Perioden hatte.
f.
Es spricht wohl auch seine eigene Aussage dafür.
Er erklärte gegen mich ausdrücklich, wie ich schon in einer früheren Vernehmung mit allen Nebenumständen aussagte, daß ihm ein Mann den Stich beigebracht habe; und da er dieses nun während der Tage seines Leidens und selbst in seiner Sterbestunde nicht widerrufen hat, so läßt sich wohl nicht so leicht annehmen, daß er diesmal Unwahrheit sagte.
g.
Endlich zeigte er viele Fa**ung bei seinem Sterben.
Äußerte er in seinen letzten Stunden gleich manches, was eine doppelte Deutung zuläßt, so war er doch im ganzen gefaßt und endete bei solcher Ruhe, die ich von einem Menschen, dessen Gewissen besonders beschwert ist, nicht wohl erwarten kann. [Fußnote]
II.
Wenn man annehmen wollte, daß ein Attentat von fremder Hand auf Hauser nicht stattgefunden hätte, so müßte man nach meiner Ansicht nichts Geringeres annehmen dürfen, als daß sein ganzes Benehmen Täuschung gewesen wäre. Eine solche Annahme möchte zum Teil in folgenden meiner Erfahrungen und Beobachtungen einige Begründung finden können.
a.
Kaspar Hauser besaß die Eigentümlichkeit, daß unter veränderter Lage auch sein ganzes Wesen verändert schien.
Es hat bekanntlich jeder Mensch neben dem gewöhnlichen Ausdrucke seines Gesichtes und dem Benehmen in seiner gewöhnlichen Umgebung und Lage auch noch eine freundlichere und unfreundlichere Seite, und er wendet die eine oder die andere derselben heraus, je nachdem die Eindrücke auf ihn gemacht werden.
Bei manchem zeigt sich der Abstand, die Verschiedenheit in seiner Physiognomie und ganzen Haltung so groß, daß er sich unter veränderten Situationen kaum mehr ähnlich sieht, daß man fast ein anderes Wesen vor sich zu haben glaubt. (Wenn das alltägliche Leben einen Menschen bisweilen mit dem Namen »Ga**enengel« und »Hausteufel« bezeichnet, so ist dies ein deutlicher Beweis, wie sehr es den großen Abstand des Benehmens in bestimmten Beziehungen erkannt hat.)
So lehrt ebenfalls die tägliche Erfahrung, daß es dem einen gegeben ist, die Farbe langsamer, dem andern, solche schneller, und einem dritten, sie so schnell zu wechseln, daß man bei gewöhnlichem Blicke kaum den Übergang bemerken kann.
Zu den Menschen nun, denen die Natur wenigstens drei ganz verschiedene Anzüge – einen für den gewöhnlichen Hausbedarf, einen zweiten für günstige und einen dritten für ungünstige Gelegenheiten – und dazu die Fähigkeit erteilt hat, dieselben augenblicklich zu wechseln, gehörte nach meiner einfachen Beobachtung und innigsten Überzeugung Kaspar Hauser.
Sein gewöhnliches Gesicht, wie sein gewöhnliches Benehmen, hatte für mich und die meisten weder etwas Empfehlendes noch etwas Abstoßendes. Es kündete einen sehr alltäglichen Menschen an und ließ jeden Unbefangenen weit eher auf eine gemeine, als höhere Abkunft schließen. In dieser Verfa**ung sahen ihn alle, welche sich gegen ihn benahmen, wie man sich auch gegen andere Menschen zu benehmen pflegt, sowie diejenigen, an deren Gunst und Wohlwollen ihm nicht so sehr gelegen war.
Das gewöhnliche Gesicht war bei ihm aber wie verschwunden, wenn er auf eine oder die andere Weise überrascht und zu einer andern Richtung bestimmt wurde. Denen, die durch Ton und Haltung zu erkennen gaben, daß sie in ihm ein Kind sehen wollten, zeigten seine Mienen und Gebärden, wie seine Äußerungen usw. auch wirklich ein solches Gemische von Kindischem und Kindlichem, daß man recht füglich glauben konnte, ein Kind in Mannesgröße vor sich zu sehen. Ich und meine Frau mußten staunen, als wir ihn andern gegenüber einige Male in dieser Lage sahen, und zuweilen hörten, wie er sich außer dem Hause in gewissen Fällen benommen hatte.
Es kam bei ihm lediglich darauf an, wen er vor sich hatte, und wie man ihn faßte. Wer gleich mir und meiner Frau mit ihm nie eigentlich tändelte, dem zu Ehren zeigte er sich auch nie in seinem Kindesrocke.
Nicht weniger auffallend schien sein Wesen verändert im Umgange mit denen, bei welchen er sich ganz besonders insinuieren wollte. Auch in dieser Lage war der gewöhnliche Kaspar Häuser fast nicht mehr zu erkennen. Sein Gesicht zeigte eine solche blinzelnde Freundlichkeit und sein ganzes Benehmen eine solche schmeichelnde Zutätigkeit, daß ich sie wahrlich nicht treffender als Mad. Biberbach im anliegenden Brief Nr. 1 [in ihrem Briefe an meine Frau] mit dem Ausdrucke Katzenfreundlichkeit [Fußnote] bezeichnen kann.
Personen von Distinktion, vorzüglich aber Damen, die er mit mehr oder weniger Enthusiasmus für sich eingenommen fand, hatten das Vergnügen, ihn gewöhnlich in dieser großen Freundlichkeit zu sehen. [Fußnote]
Mir war er in diesem Gewande, welches ihm so viele Gönner und Freunde verschaffte, nicht sehr leidentlich, da ich stets die Natur zu vermissen glaubte.
Den vollkommensten Kontrast (man wird ihn nicht leicht bei jemand wieder so finden) zu seiner freundlichen Seite bildete seine unfreundliche. Man lernte ihn von dieser kennen: 1. bei unverhofftem Besuche auf seinem Zimmer, 2. in seinen verstimmten Perioden und 3. wenn man ihm eine Untugend zu verweisen oder ihm durch den Sinn zu fahren hatte.
Solange er bei mir war, und gleich vom Anfange an, schon als Herr Graf Stanhope noch hier war, fand ich ihn immer auffallend düster und finster, wenn ich unverhofft zu ihm ins Zimmer trat, während noch irgend ein Gegenstand seine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Der Ausdruck seines Gesichtes in dieser Lage beschäftigte oft mein Nachdenken, und er hätte mich jeden andern Menschen nicht wohl anders als einen sehr Verstockten und innerlich Unzufriedenen erkennen la**en; bei Hauser mußte ich mir denselben freilich aus seinen früheren Verhältnissen zu erklären suchen. Sobald er mich nur ansah, verloren sich indes jene sehr düsteren Züge schon großenteils, und sie verschwanden gänzlich bei den ersten Worten, die er zu mir sprach.
Kaspar Hauser hatte, wie ich oben schon andeutete, zuweilen Perioden, in denen er ernster, zurückhaltender und verschlossener als gewöhnlich war. In solchen war er in hohem Grade unleidentlich. Andere Menschen haben wohl auch ähnliche Tage und Zeiten; aber man wird selten einen finden, der dann unausstehlicher wäre, als Kaspar Hauser war. Sogar sein Gesicht schien zu solchen Zeiten weit älter als sonst. Dabei war sein Benehmen ungefällig und stockisch. Er tat besonders wichtig und geheimnisvoll und zeigte den unbescheidensten Widerspruch. Alles schien ihm lästig zu sein.
Die unfreundlichste Seite zeigte er, wie es wohl natürlich ist, jedoch dann, wenn ihm eine Untugend, ganz besonders aber eine Lüge vorgehalten wurde. Dabei schob er die Schuld rücksichtslos auf andere, leugnete, so lange es nur immer ging, und entfaltete, wenn man sich nicht beruhigte, ein so sehr entstelltes Gesicht – sogar die Nasenlöcher schienen dann bei ihm sich mehr zu eröffnen –, daß man in dem Augenblicke glauben mußte, den boshaftesten und ingrimmigsten Menschen vor sich zu sehen. In solchen Situationen haben ihn außer mir Herr Oberleutnant H[ickel] öfters und Herr Präsident v. F[euerbach] wenigstens einigemal gesehen. Beispielsweise erinnere ich nur daran, daß er Herrn Oberleutnant Hickel bei dem bekannten Auftritte, den er wegen des Tagebuchs [Fußnote]
»In bezug auf ein Tagebuch erzählt Graf Stanhope in diesem Briefe:
Schon als ich in Ansbach war, ereignete sich ein Umstand, den ich in einem Briefe vom 24. Mai 1832 dem Leutnant Hickel schrieb mit der Bemerkung, daß er »einer nahem Beleuchtung« zu bedürfen schiene. Ich erzählte darüber in meinem ersten Verhör folgendes:
›Ich habe von dem Herrn Oberleutnant Hickel erfahren, daß unter den hinterla**enen Papieren des Verstorbenen kein Tagebuch zu finden war. Der Verstorbene hatte jedoch mir öfters von einem Tagebuch gesprochen, worin er täglich alles eintrug, was ihm sehr wichtig oder interessant zu sein schien, auch hatte mir der – – allhier gesagt, daß der Verstorbene ein solches Tagebuch geführt hätte, als er in Nürnberg bei Herrn Biberbach lebte, wie ihm derselbe, oder seine Tochter, gesagt haben sollen.
Nach den Äußerungen des Verstorbenen soll er dieses Tagebuch schon zu der Zeit, als er beim Professor Daumer war, geführt haben. In den letzten Tagen meines Aufenthalts in Ansbach, im Monat Januar 1832, hat sich der Verstorbene selbst erboten, mir einmal etwas daraus vorzulesen; ich dankte ihm dafür und sagte ihm, daß es mir sehr interessant wäre.
Am Nachmittage des Tages vor meiner Abreise von Ansbach ging ich ins Haus des Schullehrers Meyer, um Abschied von ihm zu nehmen, und ging zuerst in das Zimmer des Verstorbenen, wo ich sein Tagebuch zu sehen verlangte, ohne jedoch den Wunsch oder die Zeit zu haben, vieles darin zu lesen, nur um die Größe und die Umständlichkeit desselben kennen zu lernen. Der Verstorbene sagte mir, daß er es nicht tun könne, indem das Tagebuch unter vielen andern Sachen läge, und es sehr unbequem wäre, dazu zu kommen.
Diese Entschuldigung schien mir eine Falschheit zu enthalten, indem man auf solche Art ein Tagebuch nicht zu halten pflegt, welches täglich gebraucht wird. Ich machte indessen dagegen keine Einwendung und ging ins Zimmer des Herrn Meyer, der mich bis an die Stiege begleitete, nachdem ich Abschied von ihm genommen hatte. Der Verstorbene bat mich hierauf, wieder in sein Zimmer zu gehen, welches ich auch, von dem Herrn Meyer begleitet, tat.
Als wir darin waren, sagte mir der Verstorbene: ich will Ihnen doch mein Tagebuch zeigen; Sie müssen mir aber vorerst versprechen, ja nichts darin zu lesen. Ich gab ihm zur Antwort: Du wirst wohl glauben, daß ich ohne deine Erlaubnis gar nichts lesen werde, was du geschrieben hast. Dann machte er die Schublade eines Kommodkästchens, welches in seinem Zimmer stund, auf, und hob den Zipfel eines Rocks auf, worunter dann ein dünnes, in lichtblauem Papier geheftetes Buch lag, welches er jedoch nicht aus der Schublade hervorzog. Er sagte darauf dem Herrn Meyer: dieses Buch enthält Sachen, die für mich sind, und wovon weder der Herr Graf noch andere etwas zu wissen brauchen. Herr Meyer sagte ihm, daß er die Sachen nicht zu sehen brauche, die er für sich selbst behielt. – Seit dem Tode des Verstorbenen habe ich von dem Oberleutnant Hickel erfahren, daß er zufolge eines Briefs, den ich ihm, oder dem verstorbenen Herrn v. Feuerbach schrieb, und in welchem ich den oben erwähnten Umstand in Betreff des Tagebuchs erwähnte, zu dem Verstorbenen ging und ihm meinen Wunsch, wie auch den des Herrn v. Feuerbach, mitteilte, er solle dieses Tagebuch unverzüglich dem Herrn v. Feuerbach zuschicken, welches der Verstorbene durchaus zu tun sich weigerte und sagte, er wolle es nur mir persönlich übergeben oder mir etwas davon vorlesen. Herr Meyer kam ins Zimmer, und als der Verstorbene darauf bestand, er wolle schlechterdings dieses Tagebuch nicht an den Herrn v. Feuerbach schicken, so sagte der Oberleutnant Hickel, man solle es ihm mit Gewalt abnehmen, wo sodann der Verstorbene äußerte, er habe es unlängst verbrannt.
Der Oberleutnant Hickel ließ aber sein Kommodkästchen und seine andern Behältnisse sogleich in seiner und des Herrn Meyer Gegenwart durchsuchen, und, da kein Tagebuch gefunden wurde, fragte Herr Meyer den Verstorbenen, wo er das Tagebuch aufbewahrt hätte, und der Verstorbene zeigte ihm hierauf eine Schublade, wo, wie ich es verstanden habe, es hinter einem Brette gelegen haben soll.‹
Bis zu den Worten »er habe es unlängst verbrannt«, ist die Sache vom Herrn Grafen Stanhope richtig erzählt. Daß aber Herr Oberleutnant Hickel Hausers Behältnisse sogleich in meiner Gegenwart durchsuchen ließ usw., ist unrichtig.
Außer dem, was ich oben von dem Benehmen Hausers bei dieser Gelegenheit gesagt habe, verhält sich die Sache noch weiter so: Mir erschien das Wichtig- und Heimlichtun mit dem vermeintlichen Tagebuch selbst gegen den Herrn Grafen Stanhope sogleich unnatürlich, und ich nahm mir deshalb auf der Stelle vor, unter allen Umständen diese unwichtige Wichtigkeit aufzuklären. Zu dem Ende verschaffte ich mir bald einen Schlüssel, der Hausers sämtliche Behältnisse sperrte. Ich suchte dann gemeinschaftlich mit meiner Frau vor allem Hausers Kleider durch, um das in lichtblaues Papier gebundene Buch, welches ich ebenso deutlich wie Herr Graf Stanhope gesehen hatte, zu finden; allein – es war hier kein Buch mehr vorhanden. Wir suchten darauf jedes, auch das kleinste Behältnis, jede Ecke in der Stube, den Raum unter den Behältnissen, der Bettstelle, ja das Bett selbst vollständig und ganz genau durch; und wir fanden kein blaues Buch mehr.
Ebenso genau suchte ich nach kürzern und längern Zwischenräumen noch einigemal nach und fand keine Spur mehr von einem blauen, aber ebensowenig von einem anderen Tagebuche.
Als daher Hauser von Herrn Oberleutnant Hickel später angegangen wurde, das Tagebuch auszuhändigen, war ich schon überzeugt, daß er keines besitze. Ich machte nun mit meinem Verfahren, sowie mit meiner Erfahrung in dieser Beziehung Herrn Oberleutnant Hickel und Herrn Präsident v. Feuerbach bekannt, und fragte Hauser, wann er denn eigentlich sein Tagebuch verbrannt habe. Er gab zur Antwort: ›Erst neulich, weil der Herr Präsident und der Herr Oberleutnant immer von dem Tagebuch zu sprechen anfingen und sagten, daß ich es zeigen solle. Ich hatte es aber einige Zeit her nicht mehr ordentlich geführt, und darum wollte ich es nicht zeigen; und damit nun das Gerede von dem Tagebuch einmal ein Ende nimmt, darum habe ich es verbrannt.‹
Jetzt äußerte ich, daß, wenn er je ein Tagebuch geführt habe, er es wohl schon länger nicht mehr haben müsse (denn ich hatte es schon seit dem Februar 1832 überall gesucht, aber nie eine Spur von einem Tagebuche gefunden).
Hauser blieb aber dabei stehen, daß er es erst neulich, d. h. vor zirka 8 Tagen, verbrannt und es bis dahin bald da, bald dort (die Orte aufzählend) aufbewahrt habe.
Als ich einige Stunden später wieder auf sein Zimmer kam, sagte er mir, daß es längere Zeit hinter seiner Schreibkommode gehangen sei, und zeigte mir in deren Rückwand wirklich einen Nagel, wo es hängen konnte. Daß ich dort nicht gesucht hatte, ist richtig.
Meine Magd aber, welche in der Küche neben Hausers Stübchen beschäftigt war, teilte mir mit, daß sie vor ungefähr einer Stunde in dem Stübchen habe klopfen hören, als ob ein Nagel in ein Brett eingeschlagen würde.
Im Besitze von Hammer und Nägeln war Hauser wohl.
Indem ich am Abende mit diesen Umständen Herrn Präsidenten v. Feuerbach bekannt machte, fiel mir ein (es war Sommer und schon lange nicht mehr geheizt worden), daß in Hausers Ofen sich noch die Papierasche finden müßte, wenn er das Buch verbrannt hätte, und glaubte, daß er nun ganz gewiß gefangen wäre. Allein ich täuschte mich.
Als am andern Tage der Ofen untersucht wurde, fand sich in demselben eine große Menge Papierasche vor, und Hauser erklärte auf die Bemerkung: von dem Tagebuch könne unmöglich soviel Asche herrühren, – daß er mit demselben zugleich viele alte Schriften und Briefe verbrannt hätte.
Nun war diese Komödie ganz zu Ende.
Wenn ich ihn früher einige Male entschieden tadelte, daß er sein Tagebuch nicht sehen ließe, wenn ich ihm bemerkte, daß ein guter Mensch die Einsicht in sein Tagebuch nicht zu scheuen brauche, vielmehr sie nur wünschen könne, daß am allerwenigsten er ein geheimes Tagebuch führen sollte usw., so entgegnete er mir ein- wie das anderemal:
Herr Professor Daumer, bei welchem und unter dessen Anleitung er sein Tagebuch zu führen begonnen, habe ihm gesagt, daß man sein Tagebuch nur für sich habe, und es gar niemand sehen zu la**en brauche. Herr Professor habe ihn aber doch sonst nichts Falsches gelehrt.
Weder Herr Professor Daumer und seine Frau Mutter, noch die Biberbachschen (ich habe sie nach Hausers Tode darüber gesprochen), haben aber bei Hauser je ein Tagebuch gesehen; und ich bin davon überzeugt, daß er gar nie eines führte. Denn unser Hauser hatte zu einem freiwilligen Geschäfte, das tagtäglich wiederkehrt, durchaus nicht Lust und moralische Kraft genug.«
Hierzu bemerkt Daumer (S. 285f.): »Hauser äußerte bei Meyer, daß er ein Tagebuch führe; ließ auch ein Heft sehen, in welchem da**elbe enthalten sei; wollte es aber nicht aus den Händen geben. Dazu hatte er das Recht; jedem ist es erlaubt, sich Aufzeichnungen zu machen, die bloß für ihn bestimmt sind; ein mit solchen erfülltes Tagebuch pflegt jeder geheim zu halten; und es ist die vollste Indiskretion, ohne die gewichtvollste Veranla**ung in ein solches Geheimnis einzudringen. Auch war Hauser nicht mehr in dem Grade Kind, daß man ihm nicht so viel Freiheit und Selbständigkeit hätte einräumen müssen, dergleichen Geheimnisse zu haben und bewahren zu dürfen. Dieses Tagebuches wollte sich nun aber der Graf durchaus bemächtigen.« Nach Hinweis auf die Widersprüche in der Stanhope- und Meyerschen Erzählung schließt Daumer: »Lehrer Meyer erzählt, wie er dem Findlinge bemerkt habe, daß ein guter Mensch die Einsicht in sein Tagebuch nicht zu scheuen brauche, vielmehr sie nur wünschen könne. Das ist originell. ... Das Tagebuch ist eine Art Beichte, die man vor Gott und sich selber ablegt, aber nicht aller Welt preisgibt. Man pflegt darin auch nicht von sich allein, sondern auch von anderen zu sprechen; und das ist wohl nicht nur lauter Lob und Schmeichelei. Lesen es nun diese, so kann es dem Schreiber sehr übel bekommen. Vermutlich hat in Hausers Tagebuch manches gestanden, was seine Umgebung, seine Vorgesetzten, namentlich einen Stanhope, Hickel, Meyer betraf; Gott weiß, was namentlich über den Erstgenannten darin vorkam, über welchen Hauser im Sterben so bedenkliche Äußerungen hören ließ; und das war es wohl, weshalb es derselbe haben wollte.«
S. 42 Anm. 2 bemerkt Daumer: »Anfang September 1828 kam er, ohne dazu aufgefordert zu werden, auf den Gedanken, sich das Merkwürdigste und Bedeutendste, was ihm begegnete, in Form eines Tagebuches aufzuzeichnen....
Ein angefangenes Tagebuch von Hauser ist noch in meinen Händen, und über sein Befinden führte er während der mit ihm angestellten Heilversuche sehr genaue Tagebücher, die ich ebenfalls noch aufzeigen kann.« Vgl. auch D. 59 S. 181ff.
mit ihm hatte, durch sein Benehmen so ärgerte, daß Herr Oberleutnant Hickel sich mit Gewalt zurückhalten mußte, um Hausers Dreistigkeiten nicht tätlich zurückzuweisen. Daumer meint dazu: » [Fußnote]
Hauser trieb hier seine unkindliche Widersetzlichkeit sehr weit. Am Ende, als Herr Oberleutnant Hickel bei seiner Erklärung sich nicht beruhigen wollte, sagte er zweimal: »Da will ich lieber sterben«, worauf Herr Oberleutnant Hickel mit gerechter Entrüstung erwiderte: »Dies kannst du tun, stirb nur, dann kann man doch auf deinem Grabstein lesen: Hier liegt der Betrüger Kaspar Hauser. Was ich von dir zu wissen brauche, weiß ich, darauf kannst du dich verla**en.«
Nachdem Herr Oberleutnant Hickel sich entfernt hatte, suchte ich ihm das Unschickliche seines Benehmens einleuchtend zu machen, und bezeichnete dabei besonders die Gesinnung als höchst verwerflich, die sich im obigen Satze ausspricht. Statt aber diese Aussage zu bereuen, erklärte er mir, daß ihm, wenn man ihn immer mit solchen Dingen plage, ihm nicht glaube usw., an seinem Leben nichts läge, daß er ja früher auch nicht gelebt, und es ja lange gar nicht gewußt habe, daß er lebe.
Wie sehr sich der selige Herr Staatsrat v. Feuerbach durch das Benehmen Hausers einige Male, und zwar namentlich einmal bei einer von diesem gemachten Klatscherei, und ein andermal bei einem an den Tag gelegten Mißtrauen gegen Herrn Oberleutnant Hickel [Fußnote] überrascht sah, davon zeugen die gegen mich und Herrn Oberleutnant Hickel gemachten Äußerungen seiner seligen Exzellenz, welche fast wörtlich so lauteten: »Sie sollten gesehen haben, wie der Bube förmlich zu intriguieren wußte. Er kam zuerst ganz von der Ferne, rückte, mich fest im Auge behaltend, nur nach und nach mit seiner Absicht hervor, und trat am Ende mit solch dreister und boshafter Gebärde auf, daß ich glauben konnte, eine wahre Teufelsseele vor mir zu sehen. Ich erinnerte mich dabei Ihres Briefes von der Frau Biberbach und dachte: ›Diese Frau hat dich wahrlich recht erkannt und wahr geschildert.‹ Er stand mir in dem Augenblicke als ein im höchsten Grade Undankbarer, als Lügner und Verleumder gegenüber, und ich sah mich genötigt, ihn mit Worten gänzlich zu Boden zu donnern.«
Bei einem andern Falle äußerte sich Herr Staatsrat v. Feuerbach unter mehrerem folgendermaßen: »Dieser Kaspar Hauser weiß mich so zu umwinden, wie eine Schlange, die einen zu erdrücken sucht.«
Daß Herr Staatsrat v, Feuerbach später selbst glauben mochte, sich in Hausers Charakter im ganzen getäuscht zu haben, dürften folgende seiner Äußerungen beweisen:
»So hat denn der alte Feuerbach vor seinem Ende auch noch einen Roman geschrieben.«
»Wenn meine Schrift über Kaspar Hauser noch nicht geschrieben wäre, würde sie nicht mehr geschrieben.« [Fußnote] Mir scheint es nun, daß die chamäleonische Naturanlage Kaspar Hausers demselben bei einer allenfallsigen Täuschung hätte sehr gut zustatten kommen können. [Fußnote]
b.
Er faßte seine Umgebung schnell auf und verstand es, sein Benehmen trefflich einzurichten.
Alle, die Kaspar Hauser jemals näher standen, stimmen wohl schon lange darin überein, daß er seine Umgebung bald los hatte, die Schwächen derselben schnell erkannte und solche mit Schlauheit zu benutzen wußte.
Ich könnte hier viele einzelne Beispiele anführen; allein sie la**en sich mit Beobachtung der nötigen Schonung nicht gut erzählen, und dann gewähren sie doch kein getreues Bild, wenn man nicht Gelegenheit gehabt hat, sie mit anzusehen.
Besuche von Fremden empfing er beobachtend und in gemessener Haltung. Der Rang [Fußnote] und das Benehmen derselben bestimmten augenblicklich das seinige. Solcher, die ihn mehr fragten als seine Verhältnisse bewunderten, hatte er sich bald entledigt. Zu große Übertreibungen usw. von Männern machten bei ihm jedoch auch kein besonderes Glück. So ließ er das vergangene Frühjahr einen Professor aus dem Norden in meiner Stube förmlich stehen, indem er sich unter der Entschuldigung, daß er nun auf das Gericht müsse, auf einmal entfernte. Derselbe hatte ihm mehrere unverdiente Elogen und dabei auch gesagt, er (Professor) wäre schon in Ungarn gereist und fände nun, daß er (Hauser) ein vollkommen ungarisches Gesicht hätte.
Gar kein Vergnügen gewährten ihm Besuche von Personen des Mittelstandes. [Fußnote] Er blieb bei denselben ganz gleichgültig und so einsilbig, daß man in Verlegenheit kommen konnte. Es ist überhaupt bekannt, daß er mit Personen des gewöhnlicheren praktischen Lebens im allgemeinen durchaus nicht gerne verkehrte, und daß er sich stets lieber zu solchen, vorzüglich aber zu Damen hielt, die ihn als seltsames Wunder und als kindliche Unschuld venerierten. Wie sehr er eine gute Meinung von sich zu unterhalten wußte, davon hat man ja die auffallendsten Beweise. Gelang es ihm denn nicht, hochstehende und in jeder Beziehung ausgezeichnete Familien jahrelang bei dem Glauben zu erhalten, daß er keiner Lüge, und noch weniger einer anderen Untugend fähig sei!
Dieser Umstand mag wohl den untrüglichsten Beleg zu meiner Behauptung liefern:
»Hauser verstand es, sein Benehmen der jedesmaligen Umgebung ausgezeichnet gut anzupa**en.«
Mein Urteil in dieser Beziehung äußerte ich schon seit zwei Jahren stets dahin, daß sich Hauser gegen seine Besuche und Bekannte weit pa**ender benehme, als sich die meisten derselben gegen ihn zu benehmen wüßten.
Er zeigte sich fast überall anders. In dem Hause meiner Schwiegermutter, [Fußnote] wo man ihm, wie an anderen Orten, als dem interessanten Kaspar Hauser gern huldigte, benahm er sich schon ganz anders als bei mir. Dort urteilte er auch über Dinge und Verhältnisse, die ihm mir gegenüber ganz fremd waren, mit Ein- und Umsicht.
c.
Seine Urteile in bezug auf andere, ihre Handlungen, Lebensverhältnisse usw. fand ich in der Regel richtig, ja oft treffend, wenn sie nicht gewisse Verhältnisse von ihm berührten; sobald sie sich aber auf einzelne Verhältnisse von ihm bezogen, trugen sie unter Umständen mehr oder weniger Spuren des Unwahrscheinlichen und Unwahren an sich.
So viele Beweise er von Unkenntnis und Unerfahrenheit in den gewöhnlichsten Dingen gab, so viele gab er gewiß auch von seiner Bekanntschaft mit dem Leben. Er sprach natürlich öfters von denen, mit welchen er in kürzerer oder längerer Zeit bekannt geworden war. Dieselben hätten sich aber wahrlich oft gewundert, wenn sie gehört hätten, wie richtig Hauser sie aufgefaßt hatte.
Ungünstige eheliche Verhältnisse, die er früher erkannte, als man glauben sollte, beurteilte er einige Male mit einer Umsicht, die mich überraschte. Den schuldigen Teil tadelte er zwar gehörig, bemerkte aber zur Entschuldigung recht schön, wo der eine Teil dem andern eben zu alt oder zu wenig gescheit sein möge. Zum Beweis, wie wacker er urteilen konnte, nur einige Beispiele etwas ausführlicher.
Im vorigen Winter hatte ihm eine Frau ihren Herzenskummer entdeckt, und er nahm großen Anteil. Meine Frau, welche erfahren hatte, daß jene Frau bedenklich krank sei, kam über Tisch im Gespräch auf dieselbe und drückte ihr Bedauern aus. Hauser nahm das Wort und äußerte sich in folgender Weise:
»Ja die Frau N. wird nicht mehr ganz gesund. Sie hat sich schon zu arg hinuntergegrämt. Der fehlte jetzt auf der Welt nichts; sie hätte alles, was sie sich nur wünschte. Nur ihr Mann ist gegen sie nicht, wie er sein sollte. Er mag sie eben nicht, hat jüngere lieber. Es ist so schad für ihn. Denn er hat sonst gar keinen Fehler, auch gar keinen. Er ist außerordentlich gescheit, gegen jedermann sehr gut, dient und hilft, wo er kann, und nur den einen Fehler hat er. Und er wird nicht mehr anders, wenn sich Frau N. auch zu Tode grämt. Ihre Bekannten sind aber auch dumm genug und sagen ihr immer wieder, was sie gehört haben. Ich hab' es ihr aber gesagt: ›Das sind keine Freundinnen von Ihnen; sonst würden sie Ihnen so was nicht sagen. Wahre Freundinnen sagten Ihnen nicht etwas, worüber sie sich abgrämen, und was doch nicht mehr zu ändern ist. Sagen Sie diesen guten Freundinnen, sie möchten solche Sachen künftig nur lieber für sich behalten. Sie wollten nichts mehr hören.‹ – Nachdem ich bei diesen Äußerungen meine Gedanken für mich gemacht hatte, glaubte ich doch eine Frage an ihn stellen zu müssen. Ich fragte ihn daher, ob denn Herr N. erst in der neuern Zeit seiner Frau Veranla**ung zu Kränkungen gegeben habe, und darauf erwiderte er: »Ja freilich – es sollen erst in der letzten Zeit wieder zwei Kinder von ihm da sein. – –«
Ich wählte dieses Beispiel ungerne; allein ich glaubte es deshalb nicht umgehen zu dürfen, weil Hauser beim Religionsunterrichte gegen Herrn Pfarrer Fuhrmann im vergangenen Frühjahre noch eine so gänzliche Unbekanntschaft mit ehelichen Verhältnissen an den Tag legte. [Fußnote]
In meiner Gegenwart bemerkte er nicht leicht etwas über Geschlechtsverhältnisse. Es wurde natürlich schon alles vermieden, was ihn zu dergleichen Bemerkungen hätte veranla**en können. Gleich in den ersten Wochen, die er bei mir war, erregte er in mir jedoch durch folgenden Fall die Meinung, als wäre er auch in dieser Beziehung nicht so ganz unwissend. Er hörte von mir den Namen einer hiesigen Bürgersfamilie nennen und fragte darauf, ob der N. nicht ein Wirt wäre. Auf meine Antwort »Ja« fuhr er fort: »Von dem hat eine Tochter in Nürnberg bei Frau v. Tucher gedient. Sie hat sich dann verheiratet, kam aber bald wieder von ihrem Manne. Dieser war ein lüderliches Stück. Wenn sie nur einen Augenblick frei hatte, lief sie selber den Mannsbildern nach. Sie war so unverschämt und zog sich einmal auf meinem Zimmer an. Ich erlaubte es ihr, weil ich glaubte, sie werde nur Oberkleider anziehen wollen; aber sie zog sich dann beinahe ganz aus und schnürte sich ein.« Mir erschien er hier, wie so oft, nicht mehr als das einfältige, arglose Kind. [Fußnote]
Mehr oder weniger gegen die Meinung, als sei er eben ein unerfahrenes Kind gewesen, streiten auch folgende Beobachtungen.
Waren welche über bestimmte Dinge verschiedener Ansicht oder in Streit geraten, und hörte er die Ursache oder die Gründe beider Teile, so urteilte er in der Regel nicht nur sehr richtig, sondern auch billig. Es macht mir Vergnügen, dabei zu seinem Ruhme sagen zu können, daß er diejenigen stets hart tadelte, welche andern offenbar und absichtlich Unrecht taten.
Den Erzählungen anderer mißtraute er gerne und gab oft zu erkennen, daß er ihnen nicht alles glaube. Über einen und den andern, der ihm oder in seiner Anwesenheit andern mehreres erzählt hatte, äußerte er nicht selten: »Der sagt auch mehr als er selber glaubt.« Gab er Punkte an, um welcher willen er dies glaubte, so zeigte er einen wahrhaft richtigen Blick und Bekanntschaft sowohl mit den menschlichen Schwächen als einzelnen Lebensverhältnissen.
Dessen ungeachtet ließen seine Äußerungen und Erzählungen, sobald sie ihn oder Verhältnisse von ihm betrafen, oder wenn er sich gewissen Personen gegenüber befand, eine große Unerfahrenheit und geistige Beschränktheit, noch mehr aber die höchste Unwahrscheinlichkeit der Sache erkennen.
Obgleich andere schon Belege genug für seine Unerfahrenheit usw. liefern, so will ich doch auch noch einen dazu geben, um zu zeigen, daß auch ich noch Gelegenheit hatte, seine kindlichen Vorstellungen zu bewundern. Zu der Zeit, als Kaspar Hauser in mein Haus kam, pflegte ich unmittelbar nach dem Abendessen den (Nürnberger) Korrespondenten und die bayerische Deputiertenkammer von 1831 zu lesen. Dabei nahm ich Veranla**ung, ihn zu fragen, ob er denn wisse, was eine Deputiertenkammer sei? Ja – antwortete er – eine Deputiertenkammer ist eben eine recht schöne Kammer des Königs, wo nur die Deputierten hineingehen und recht viel Schönes sehen dürfen. Ich habe mir in Nürnberg schon gedacht, ich will doch den Herrn Plattner, wenn er von München zurückkommt, fragen, ob die Kammer unsers Königs recht schön war, und was er alles gesehen hat.
Diese naive Antwort gab er mir in den ersten Tagen unserer Bekanntschaft. [Fußnote]
So vier bis sechs Wochen hindurch wurde auch ich von ihm mit einigen Naivitäten überrascht. Ich blieb indes – nicht ohne Absicht – bald gleichgültig. Daß ich später – nach höchstens zwei Monaten – dergleichen kindliche Äußerungen gegen mich nicht mehr vernommen habe, kann ich auf das Bestimmteste behaupten.
Den Beweis, welche Unwahrscheinlichkeiten er einzumischen gewohnt war, wenn er von dem erzählte, was ihm begegnete, was er fühlte, dachte und tat, liefern ebenfalls die Mitteilungen anderer schon mehr als hinlänglich. Darum von mir nur noch folgende Beispiele.
Es war in den letzten Tagen des Dezember 1831, als ich ihm Gelegenheit verschaffte, bei Herrn Musikus Schüler dahier mehrere Experimente mittels der Elektrisiermaschine mit anzusehen. Er sagte mir einige Tage vorher in der Stunde, daß er weder je von der Elektrizität etwas gehört noch eine Elektrisiermaschine gesehen hätte, und gedachte dabei, wie häufig, tadelnd seiner Nürnberger Verhältnisse, indem er sagte: »So etwas haben sie mir in Nürnberg nicht gelehrt und gezeigt, da hab´ ich nur immer das trockene Latein treiben müssen, wozu ich doch keine Lust hatte. [Fußnote]
An dem Experimente fand er großes Vergnügen und er wollte die gewöhnlichen Einwirkungen auf den menschlichen Körper an sich selbst erfahren. Anfangs war sein Benehmen dabei so, wie man es an jedem anderen Ziererei genannt haben würde. Bald aber entlockte er mittelst der Finger, sowohl dem bewegten Zylinder als den Personen auf dem Isolatorium, häufiger als alle andern elektrische Funken, ließ sich gleichfalls elektrisieren und von andern berühren. Selbst den elektrischen Schlag hätte er mit mehreren geteilt, wenn ich es zugegeben hätte.
Nachdem das Experiment vorüber war, saßen wir wohl noch ein Stündchen mit der Familie Schüler zusammen. Gegen zehn Uhr ging Hauser in meiner und meiner Frau Begleitung vergnügt nach Hause und begab sich sogleich zu Bette.
Am andern Tage morgens sagte er: »Ich habe aber eine schlechte Nacht gehabt. Die ganze Nacht habe ich kein Auge zumachen können. Kaum war ich im Bette, so bekam ich ein fürchterliches Kopfweh und Nasenbluten. Das Nasenbluten hatte ich die Nacht hindurch mehrere Male und zweimal mußte ich mich auch stark übergeben.« Vom Nasenbluten (er hatte dieses auch sonst öfters, aber immer nur ganz unbedeutend) traf ich wirkliche Spuren in seinem Waschbecken und Sacktuche, vom Erbrechen aber keine. Als ich ihn fragte, wohin er denn gebrochen hätte, sagte er nach kurzem Besinnen: »In den Abtritt.« Dies schien mir nun im höchsten Grade unwahrscheinlich, und zwar in doppelter Hinsicht. War es denn nicht weit natürlicher, in das Waschbecken zu brechen, wohin er auch blutete? Welcher Mensch, auch nur mit gewöhnlichem Geruchssinne, insbesondere aber welches Kind (und für ein solches soll ja Hauser fortwährend gelten) wird wohl ohne dringendste Not beim Erbrechen den Abtritt wählen und aufsuchen? Dann wollte Kaspar Hauser aber auch damals feiner riechen und jeden unangenehmen Geruch unerträglicher finden als alle im Hause. »Entweder«, so mußte ich damals gleich schließen, »ist es nun nicht wahr, daß du einen feinen Geruch, oder daß du in den Abtritt, und überhaupt, gebrochen hast.« Nach meiner spätern näheren Bekanntschaft mit ihm konnte ich glauben, daß keines von beiden wahr sei. [Fußnote] Meine Frau und ich haben uns recht oft überzeugt, daß sein Geschmack und sein Geruch nicht so fein waren, wie diese Sinne nur z.B. mir eigen sind. Wo er nicht schon im voraus wußte, daß er etwas Besonderes riechen oder schmecken sollte, – es mußten denn diese Eigenschaften sehr hervorstechend sein –, da gewahrte er solche an Speisen und andern Dingen häufig gar nicht. Wurde er indes gefragt, ob er nicht etwas rieche oder schmecke, dann fand er freilich jedesmal einen besondern Geruch oder Geschmack, hatte aber in der Regel keine deutliche Vorstellung von demselben, da er ihn gewöhnlich ganz falsch ableitete.
Oft pflegte er wohl auch [Fußnote] auf meine Anregung zu behaupten, er rieche oder schmecke etwas, wo wahrlich nichts zu riechen oder zu schmecken war. Hatte er aber solches einmal behauptet, so blieb er auch fest darauf. Nie aber gab er zu, daß er sich hierin, wie in so vielem andern, habe irren können, und suchte dadurch glauben zu machen, daß er eben ganz andere Eigenschaften besäße, als andere. Zu diesem Satze nahm er gerne seine Zuflucht, wenn man seinen Vorgebungen gegründete Einwendungen entgegen setzte. Damit war nun freilich sein Gegner auf die kürzeste Weise abgefertigt.
Eine große Unwahrscheinlichkeit liegt auch in folgender Versicherung, die er mir am Abend seines Konfirmationstages, dem 20. Mai 1833, gab. Ich nahm Veranla**ung, von dem wohltätigen Einflüsse des Gebetes auf die geistige Veredlung des Betenden zu sprechen, nannte es sehr gut und löblich, wenn man regelmäßig zu gewissen Tageszeiten bete, und ermunterte ihn, er möge nun von seinem Konfirmationstage an die gewöhnliche Ordnung, beim Aufstehen und Schlafengehen zu beten, ja streng einhalten.
Darauf sagte er mir, er hätte bisher schon jeden Morgen und jeden Abend und zwar immer aus der Gebetsammlung gebetet, die ihm der Graf gegeben hatte. Auf meine Frage, ob er denn einige solche Gebete auswendig könne, erwiderte er: nein, er lese sie jedesmal. Als ich ihm darauf bemerkte, ans Lesen käme man aber doch nicht immer, manchmal hätte man dazu nicht mehr Zeit, bisweilen würde man auch gestört usw., und darum wäre es besser, wenn man einige kurze Gebete oder wenigstens doch ein Morgen- und Abendlied auswendig lernte, die man dann während des Aufstehens und Anziehens usw. beten könne, entgegnete Hauser weiter, er würde nie gestört, er hätte sein Gebet bisher jedesmal lesen können und er hätte es noch kein einziges Mal, auch nicht einmal, sagte er mit Ausdruck, versäumt.
»Auch nicht, wenn Sie sehr frühe morgens verreist und sehr geeilt haben,« fiel ich ein, und er sagte hierauf schnell und entschieden sein »Nein«. Nachdem ich ihm hierauf bemerkt hatte, daß ich ihm dies an einem andern Tage nicht leicht würde geglaubt haben, daß ich aber heute keine Unwahrheit von ihm erwarten wollte, versicherte er mir wiederholt die Wahrheit seiner Aussage und später brachte er ohne weitere Veranla**ung das oben erwähnte Büchlein aus seinem Zimmer und zeigte mir in demselben die beiden Gebete, welche er vorgeblich jahraus jahrein morgens und abends zu beten pflegte, konnte aber gleichwohl auch kein Sätzchen, ja nicht die Aufeinanderfolge einiger Worte davon auswendig. Es gehört mehr als gewöhnlicher Glaube dazu, auch Kaspar Hausers diesfallsige Aussage als wahr anzunehmen. Ich hatte zwar schon lange vorher die Überzeugung gewonnen, daß er unwahr sei im Benehmen wie im Reden, ja daß er dies mit Dreistigkeit sei; allein ich getraute ihm bis daher nicht zu, daß er an dem Tage einer so ernsten und wichtigen Religionshandlung einen religiösen Gegenstand zum Gegenstande seines gewohnten Lügens machen könnte. Von nun an mußte ich dieses aber fast glauben. Ich hätte gleich sehr gewünscht, diese Erfahrung nicht gemacht zu haben. Wenn mich auch die große Unwahrscheinlichkeit im allgemeinen nicht schon zu meiner Meinung berechtigt hätte, so wäre es sein Benehmen gewesen, unter welchem er mir obige Behauptungen machte. Ich kannte ihn ziemlich genau und konnte in der Regel Wahres und Falsches in seiner Rede und Miene wohl unterscheiden.
Da übrigens Kaspar Hauser in nichts Solidem Ausdauer zeigte, nichts weniger als religiösen Sinn hatte, ihn in meinem Hause weder ich noch die Meinigen je beim Beten antrafen, ob man gleich jeden Augenblick, unmittelbar vor und nach dem Aufstehen und Schlafengehen zu ihm aufs Zimmer kam, so trägt seine Aussage auch hierin jedenfalls die höchste Unwahrscheinlichkeit an sich.
Der gewöhnliche, kalte Verstand möchte vielleicht den ganzen Umstand an und für sich höchst unbedeutend finden; allein man möchte ebensogut erkennen dürfen, daß Kaspar Hauser nichts zu heilig war, wenn es galt, sich in ein vorteilhaftes Licht zu setzen.
d.
Hauser besaß viele Schlauheit und gab davon oft Beweise.
Im Januar v.J. wurde ihm angekündigt, daß er mit Herrn Oberleutnant Hickel eine Reise machen dürfe. Das Ziel und den Zweck derselben sagte man ihm natürlich nicht. Gegen mich sprach er sich darüber folgendermaßen aus:
»Ich muß mit Herrn Oberleutnant Hickel auf die Woche schon wieder eine Reise machen.« Auf meine Frage, ob er denn wisse wohin, erwiderte er: »Der Herr Präsident (Feuerbach) und der Herr Oberleutnant sagen mir's wohl nicht; aber ich weiß es doch. Sie haben so von Bamberg heruntergeredet, wo der Herr Oberleutnant und seine Frau her sind, und als ob sie auf Besuch dorthin gingen. Aber (Sie müssen aber gar nichts sagen) wir gehen ganz gewiß nach Gotha. [Fußnote] Dort will wieder jemand etwas über meine Herkunft wissen. Sie glauben, ich weiß es nicht, aber ich hab's doch schon gemerkt. Man hat vor einigen Wochen eine Haarlocke von mir dorthin geschickt, was ich auch so gelegenheitlich merken konnte. Mir ist es so zuwider, daß mit allem immer so wichtig und geheimnisvoll getan wird; und was ist's am Ende doch immer? Nichts! Ich weiß gewiß, daß diese Reise wieder ganz umsonst ist. Es wird das Geld nur immer unnötigerweise verreist. Die Summe, welche der Herr Graf auf die Bank gelegt hat, und welche mir gehörte, wenn nicht so viel verreist würde, wird so immer kleiner. Aber in Nürnberg haben sie's schon so gemacht. Bald wurde ich dahin, bald dorthin gefahren. Sie meinten es auch immer recht pfiffig anzufangen und recht geheim zu halten; ich wußte aber doch schon fast jedesmal wohin, noch ehe zum Tore hinausgefahren wurde.« –
In der zweiten Hälfte des ersten Jahres verursachte mir Hauser besonders viel Unangenehmes. Über Eigensinn, willkürliches Handeln und Übertretung der ihm gegebenen Vorschriften usw. mußte ich mich oft beklagen und zu manchem ernsten Auftritte veranlaßt sehen. Abgesehen von seiner Unlust zum Lernen und den alle Geduld in Anspruch genommenen dreisten Entschuldigungen suchte er sich auch der ihm lästigen Kontrolle beim Ausgehen auf jede mögliche Weise zu entziehen. Er hatte z. B. die gemessenste Weisung, mir jedesmal anzuzeigen, wohin er in Begleitung des Bedienten gehe; dessen ungeachtet und trotz meiner öftern Erinnerungen unterließ er diese Anzeige so häufig, daß ich für nötig fand, ihm durch Herrn Präsidenten von Feuerbach seine Pflicht wiederholt einschärfen zu la**en. Dem Bedienten, der ihn wohin geführt hatte, erließ er öfters das Abholen und ging, was ihm strenge verboten war, ohne Begleitung nach Hause, Auch ging er allein vom Hause weg, wenn er mich außer demselben wußte. Einmal begegnete ich ihm auf der Stiege und ein anderes Mal unter der Haustüre. Das erste Mal sagte er mir unter einiger Verlegenheit, er wolle nur auf den nahen Obstmarkt gehen und sich Obst kaufen. Darüber erhielt er von mir den gebührenden Verweis mit dem Auftrage, sich künftig, wie bisher, sein Obst durch die Magd holen zu la**en. Das andere Mal gab er vor, er wolle nur zu dem Uhrmacher gehen, da seine zum Reparieren gegebene Uhr fertig sein müsse, und der Bediente heute nicht mehr zu ihm komme. Diesmal bemerkte ich ihm nun allen Ernstes, daß er unter keinerlei Vorwand das Haus mehr allein verla**en möge, wenn er sich nicht den größten Verdruß zuziehen wolle.
Er war jetzt auf der Stelle gefaßt, sich in folgender Weise zu entschuldigen:
»Ja, der Herr Präsident hat es mir doch erlaubt, meine Gänge in der Stadt so lange allein tun zu dürfen, bis der Bediente des Herrn Leutnant wieder zurückgekommen ist. (Herr Oberleutnant Hickel war nämlich mit seinem Bedienten, der auch Hausers Dienste besorgte, auf einige Tage verreist, und ward Hauser inzwischen ein anderer Bedienter beigegeben.) Als ich ihm hierauf erklärte, diese Entschuldigung genügte mir nicht, ich müßte so lange bei meiner Instruktion beharren, bis ich eine andere erhielte, würde ihn aber mit Vergnügen ohne Begleitung ausgehen la**en, sobald er mir nur durch eine Zeile vom Herrn Präsidenten diese Erlaubnis und Anordnung nachweisen könnte, kehrte er auf sein Zimmer zurück, indem er mir zur Beibringung einer solchen Erlaubnis Hoffnung machte.
Am andern Tage vermochte er Herrn Staatsrat von Feuerbach auch wirklich dahin, daß ihm die gewünschte Erlaubnis erteilt wurde.
Herr Staatsrat von Feuerbach ließ mich auf den Abend zu sich rufen und eröffnete mir, daß Kaspar Hauser heute bei ihm gewesen sei, sehr verstimmt geschienen und geäußert habe: es sei ihm so ärgerlich und zuwider, daß er nicht ausgehen könne, wenn er gerade wolle und solle. Oft falle ihm noch ein Gang ein, wenn der Bediente schon fort sei; dann müsse er entweder warten, bis er wieder komme und manchmal komme er erst am andern Tag wieder, oder er müsse sich von der Magd, welche man auch nicht immer gerade entbehren könnte, begleiten la**en. Und jetzt, solange der Bediente des Herrn Leutnant nicht hier sei, komme ein anderer täglich nur einmal zu ihm. Er meinte, er könnte aber jetzt recht wohl allein ausgehen; er ginge ja nur bei hellem Tage in seine bekannten Häuser; auch verstände er jetzt doch schon mehr, und wenn ihm jemand etwas tun wollte, könnte er ja auch leicht davon laufen. Wenn er doch nur bei hellem Tage allein ausgehen dürfte, in der Dämmerung und bei Nacht möchte er schon selber nicht allein gehen, wiederholte er in kläglich bittendem Tone. Herr Staatsrat eröffnete mir nun weiter, er habe Hausers diesfallsigen Wunsch nicht unbillig gefunden und sei um so weniger bedenklich gewesen, ihm die gewünschte Erlaubnis zu versprechen, als Ansbach keine engen Ga**en habe, die Häuser, welche Hauser besuchte, an frequenten Teilen der Stadt liegen, und er ja nur mit keinem Unbekannten sprechen und sich in dessen Nähe aufhalten dürfe, welch letzteres er sogleich mit dem Zusatze versprochen habe, so gescheit sei er nun schon selber.
Von Sr. Exzellenz über meine Meinung befragt, konnte ich mich nur vollkommen mit derselben einverstanden erklären, da mir Hauser schon unzählige Beweise gegeben hatte, daß er in dem, was zu seinem äußern Frieden diene, bei weitem kein Kind war, vielmehr mit Schlauheit allem auszuweichen wußte, was ihm Nachteil bringen konnte. In diesem letztern Punkte war Se. Exzellenz auch damals schon ganz meiner Ansicht und Überzeugung.
Hauser erhielt nun die förmliche Erlaubnis, in die von ihm benannten Häuser und in den frequenten Straßen der Stadt ohne Begleitung gehen zu dürfen. Dabei wurde ihm aber sowohl vom Herrn Präsidenten von Feuerbach, als von mir nachdrücklich gesagt, bei Verlust dieser Begünstigung an keinen entlegenen oder von Menschen leeren Platz (wenn ich nicht sehr irre, wurde der Hofgarten beispielsweise sogar als ein solcher bezeichnet), jedenfalls nicht aus der Stadt und bei der Dämmerung durchaus nie allein zu gehen.
Über die erhaltene Erlaubnis erfreut, sprach sich Hauser gegen mich aus, wie folgt:
»Dies hab' ich schon gewußt, daß mir der Herr Präsident es erlaubt, wenn der Herr Leutnant nicht hier ist und Sie nichts dagegen haben. Der Herr Leutnant hätte gewiß wieder allerlei einzuwenden gehabt und Sie werden sehen, wenn er zurückkommt, will er wieder Umstände machen. Aber bis dahin – es ist gut, daß er noch lange ausbleibt – weiß es der Herr Präsident nicht mehr anders, als daß ich allein gehen kann, und dann läßt er sich doch nicht so leicht wieder irre machen. Wäre der Herr Leutnant hier, wüßte ich wohl, wie es ginge. Bei Herrn Präsident hat immer der recht, welcher zuletzt kommt, seitdem er immer so kränklich und häufig verdrießlich ist.«
So resolut und mit solcher Umsicht ist er auch bei diesem Falle zu Werke gegangen und so ganz hatte er seine hohen Freunde und Gönner durchschaut. Nicht vergessen darf ich, zu bemerken, daß er, nach der mir gegebenen Versicherung Sr. Exzellenz, mit demselben früher kein Wort über das Ausgehen ohne Begleitung gesprochen hatte, und daß sich also obige Entschuldigung damals sogleich als eine Lüge aus dem Stegreife darstellte.
Daß er Herrn Oberleutnant Hickel für diesen Fall richtig beurteilt hatte, zeigte die Folge. Derselbe war nach seiner Rückkehr mit fraglicher Abänderung wirklich nicht zufrieden. Er machte verschiedene Einwendungen. Als die wichtigste darunter erschien jedoch die, und er bezeichnete sie selbst als solche, daß man es um des Grafen [Stanhope] willen nicht tun solle, der nicht anders wisse, als Hauser müsse sich seit dem Mordversuche [in Nürnberg] ungewöhnlich fürchten und dürfe sich natürlicherweise nicht allein zu gehen getrauen. [Fußnote]
Da Herr Oberleutnant ihm auch deshalb lange fort Vorwürfe machte, so wurde er nun sehr bedeutend gegen ihn (Hickel) eingenommen. Er legte dem Benehmen desselben die unlautersten Motive unter, und ich war nicht imstande, ihm seine Meinung ganz auszureden. Seine Hinweisung auf gemachte Erfahrungen zeugte ebensowohl von Scharfblick als davon, daß er den Handlungen anderer nicht gerne edle Triebfedern zutraute. Mit Verwunderung hörte ich ihn für sein Gebilde verschiedene entfernte Umstände trefflich unter einander in Verbindung bringen. Zu welch seinen Kombinationen ihn sein Mißtrauen gegen andere verleitete, davon nur ein Beispiel.
Im Herbste 1832 war ihm gesagt worden, ich würde ihn nicht länger als bis zur Entbindung meiner Frau behalten können. Solange er nicht wußte, wohin er von mir aus kommen sollte, schien ihm der bevorstehende Wechsel gerade nicht unangenehm zu sein. Wenn davon die Rede war, drückte er wenigstens nie ein Bedauern aus.
Auf einmal kam er jedoch nach Hause und fragte mich, ob ich ihn denn wirklich nicht mehr behalten könnte, wenn einmal die Frau niedergekommen wäre. Durch meine Entgegnung vernommen, daß ich ihn wohl behalten könnte, bis künftigen Sommer der Herr Graf käme, daß er sich eben fügen müßte, es ihn nicht genieren dürfte, wenn es bisweilen mit Kost und Bedienung nicht so ganz am Schnürchen ginge usw., äußerte er unter auffallender Freundlichkeit weiter: »O da will ich mir gerne alles gefallen la**en. Sind Sie nur so gütig und behalten Sie mich! Ich merke, daß ich zu Herrn Leutnant sollte, und ehe ich dahin ginge, wollte ich lieber Wa**ersuppen essen. Den größten Verdruß, wenn ich mir machte, ginge ich nicht hin, und es dürfte gehen, wie es wollte.« Darauf bemerkte ich ihm natürlich tadelnd, er müßte sich wieder sehr irren, er wäre abscheulich mißtrauisch und undankbar, er hätte in keinem Falle etwas der Art noch merken können, da bis jetzt kein Wort über eine dergleichen Veränderung mit mir gesprochen worden wäre usw. »Ja«, fuhr er fort, »Sie werden sehen, ich habe schon recht verstanden. Der Herr Leutnant zieht aus, und da ist mir schon einigemal zu Gehör geredet worden, daß man nun im neuen Quartier ein Stäbchen mehr bekomme. Man hat geglaubt, ich sollte sagen, da möchte ich mitziehen.« – Auch diesmal konnte ich ihn durch meine Einwendungen nicht weiter als zu der Erklärung bringen: »Sie kennen sich eben bei Herrn Leutnant noch nicht recht aus. Wüßten Sie nur, was ich weiß.«
Ein paar Tage später trat er zu mir und meiner Frau mit den Worten in das Zimmer: »Was gilt's, Herr Meyer, ich habe neulich recht gehabt mit dem Ausziehen? Heute begegnete mir der Herr Kaplan auf dem Wege und sagte zu mir: ›Nun, Sie kommen von Meyer weg‹ Ich sagte darauf: ›Ich weiß es nicht, ich muß tun, was man von mir haben will‹ Dann sagte er: ›Ja, ja, ich hab's ganz gewiß gehört. Beim Meyer war' es langer doch nichts für Sie‹ Merken Sie jetzt noch nicht, daß man mich absichtlich von Ihnen weghaben will; es stecken noch andere dahinter; und nun gehe ich gerade nicht, wenn Sie mich behalten.« So beschloß Hauser diese seine Mitteilung. Meine Frau und ich – wir sahen uns an, und ich fühlte durch diese Überraschung mein Ehrgefühl einigermaßen angegriffen. Doch war ich noch immer nicht geneigt, zu glauben. Als ich aber am andern Tage da**elbe wieder erfuhr und diese Mitteilung von einer Person herrührte, welche mit Hausers Verhältnissen näher bekannt war, da konnte ich an Hausers richtigem Blicke auch in dieser Beziehung fast nicht mehr zweifeln. Auch meine spätern Erfahrungen waren nicht geeignet, einem solchen Zweifel besonders Raum zu geben. –
Dem mag indes sein, wie ihm wolle. Hauser mag recht oder nicht recht bemerkt haben, so geht aus seinen Kombinationen doch klar hervor, daß er die Fähigkeit, unkindlich zu kombinieren, in einem recht wackeren Grade besaß. Ich muß hier, wie in hundert andern Fällen, das einfache Kind andere suchen la**en; ich vermag es nicht zu finden. [Fußnote]
e.
Hauser war der Unwahrheit und der Verstellung in einem auffallenden Grade ergeben.
Daß Hausers Charakter eine sehr bedauerliche Richtung zur Unaufrichtigkeit, Unwahrhaftigkeit und Verstellung genommen hatte und daß seine Neigung zur Unwahrhaftigkeit schon im Oktober 1829 in auffallender Weise hervorgetreten war, bekennt selbst Herr Professor Daumer in seinem Aufsatze über Kaspar Hauser in Beziehung auf Herrn von Langs Aufsatz über denselben. (Siehe außerordentliche Beilage zur Allg. Ztg. 1834, Nr. 51) In welchem Grade diese seine Untugenden in dem Hause des Herrn Magistratsrats Biberbach erkannt wurden, davon zeugt der öfter erwähnte Brief der Frau Biberbach, welche Frau bei ihrer allgemein anerkannten Gutmütigkeit ihm wahrlich nicht unrecht tun konnte.
Auch in der Zeit, die er in dem Hause des Herrn Baron v. Tucher verlebt hat, haben ihn die in Rede stehenden [Un]tugenden nicht verla**en. Ich werde weiter unten auch ein Beispiel aus jener Zeit anführen.
Nach seinem ganzen Leben und Weben während seines Aufenthalts bei mir konnte ich schon seit 1½ Jahren kein anderes Urteil über ihn fällen, als daß er im Benehmen wie im Reden fast durchaus unwahr und [un]natürlich sei. Ich habe dieses Urteil seit erwähnter Zeit gegen niemanden, der es wissen wollte und würdigen konnte, zurückgehalten, als gegen Herrn Grafen Stanhope. Ob ich dadurch einen Beweis von Hartherzigkeit, deren man mich in der Hauserschen Sache so gerne beschuldigt, gegeben habe, muß ich billiger Beurteilung überla**en. Was sonst, wie die Besorgnis, Hauser bei Herrn Grafen Stanhope schaden zu können, konnte mich bewegen, letzterem gegenüber mein Urteil über die Gebühr zu moderieren. Wer mich näher kennt und sich überzeugt hat, daß die mir eigentümliche Wahrheitsliebe meinen eigenen Vorteil nicht schont, wird gerne zugeben, daß es mir nicht so leicht ist, dieses mein tiefstes Gefühl zu unterdrücken, und daß mich nur die gewissenhafteste Teilnahme an dem Wohl und Wehe anderer dazu bestimmen kann. [Fußnote]
Einige Belege zu diesem Abschnitte.
1. Ein Beispiel von Unwahrhaftigkeit aus der Zeit seines Aufenthalts bei Herrn Professor Daumer.
[Fußnote]
Ich wähle nicht ohne Grund gerade folgendes:
Hauser ging an einem Freitage, anstatt eine Unterrichtsstunde zu besuchen, ums Tor, wie sich die Nürnberger auszudrücken pflegen. Sein Pflegevater erfuhr dies abends durch einen Freund und sah sich von seinem Pflegesohne eben nicht das erstemal hintergangen. Am andern Tage vormittags stellte Herr Professor Daumer Hauser darüber zur Rede. Er leugnete auch diesmal ganz hartnäckig und ließ es aufs äußerste ankommen, indem er Herrn Professor dreist aufforderte, er möge nur fragen la**en. Durch die Nachfrage bei dem betreffenden Lehrer erfuhr man, daß Hauser wohl schon die ganze Woche hindurch die Stunde versäumt hatte. Das Benehmen Hausers brachte Herrn Professor Daumer so sehr auf, daß er ihm auf das ernstlichste zusetzte, ihm die noch möglichen Folgen seiner Unwahrhaftigkeit in starken Zügen vorhielt, sich mit Unwillen von ihm abwandte und seine Frau Mutter beauftragte, den Lügner nunmehr mit Verachtung zu strafen und gar keine Notiz mehr von ihm zu nehmen, während er (Daumer) selbst Einleitungen treffen wollte, Häuser von sich weg zu tun.
Unmittelbar darauf geht Herr Professor Daumer aus, und bis er zurückkommt, ist der bekannte Mordversuch in Daumers Abtritt ausgeführt.
2. Ein Beispiel aus der Zeit seines Aufenthalts bei Herrn Magistratsrat Biberbach.
Hauser sagte zu Hause, er wäre von Herrn Bäumler (seinem damaligen Lateinlehrer) eingeladen, ging aber in ein anderes Haus, welches zu besuchen ihm heute nicht erlaubt war. Die Familie Biberbach durfte dieses nach verschiedenen Umständen und seinem ganzen Benehmen vermuten, und daher wurde er bei seiner etwas späten Rückkehr von Herrn Biberbach noch ausdrücklich gefragt, wo er so lange gewesen sei. »Bei Herrn Bäumler«, erwiderte er unbefangen und setzte hinzu: »Herr Bäumler hatte auch seine Zöglinge (er war nämlich Hofmeister bei Herrn v. N. eingeladen, er hat uns mit Süßigkeiten aufgewartet und mir noch die Lebkuchen mitgegeben, die ich hier (sie herausnehmend und vorzeigend) in der Tasche habe.« Herr Biberbach, der schon länger Ursache hatte, gegen Hausers Wahrhaftigkeit durchaus mißtrauisch zu sein, wollte sich aber diesmal von der Wahrheit vollkommen überzeugen. Er fragte daher am andern Tage Herrn Bäumler im Beisein Hausers, ob und wann dieser gestern bei ihm gewesen sei, und als die Antwort dahin ausfiel, daß er Hauser gestern gar nicht bei sich gesehen habe, geriet letzterer über die so unvermutete Niederlage in den abscheulichsten Zorn, sagte aber schlechterdings nicht, und auch Herrn Biberbach später nie, ob man es gleich bald gewußt hatte, wo er damals gewesen war. Als ihm nun Herr Biberbach die Meinung recht ernstlich sagte, schlug er mit beiden Fäusten über den Tisch hinein und stieß unter der boshaftesten Gebärdung die Worte aus: »Da will ich lieber nimmer leben«. Herr Biberbach verließ ihn mit der Weisung, bei solcher Aufführung heute nicht zum Mittagtische des Herrn Bürgermeisters Binder (bei welchem er jeden Sonnabend aß) zu gehen und vorderhand sein Zimmer nicht zu verla**en. Wie auffallend aber bei ihm jetzt wieder der Zufall spielt. Herr Bäumler (war) kaum aus der Unterrichtsstunde weggegangen, will Hauser von einem Büchergestell Bücher herunternehmen, sein Stuhl sinkt, er sucht sich an einer geladenen Pistole, die an der Wand hängt, zu halten, die Pistole geht los und Hauser wird, von der Kugel am Kopfe verwundet, auf dem Stubenboden in seinem Blute liegend gefunden. [Fußnote]
3. Ein Beispiel aus der Zeit seines Aufenthalts bei Herrn v. Tucher.
[Fußnote]½ [Fußnote]
Hauser bringt der Frau von Haller in seiner großen Freundlichkeit ein sehr geschmackvoll gearbeitetes, niedliches Pappekästchen und sagt, er habe da**elbe für sie gemacht und sich außerordentliche Mühe gegeben, damit es recht schön ausgefallen sei.
Frau von Haller fand das Kästchen für eine Arbeit von Häuser zu vollkommen schön und fragte ihn daher mehrere Male mit Nachdruck, ob da**elbe denn wirklich er gemacht habe. Hauser, daran erinnernd, daß er ja bei Herrn Schnerr solche Arbeiten gelernt habe, versicherte wiederholt, er sei die ganze Nacht hindurch aufgeblieben, um das Kästchen ungesehen fertig zu bringen. Frau v. Haller ließ sich dann bei den Polizeisoldaten, die Hauser gewöhnlich bewachten, deshalb erkundigen und erfuhr durch dieselben den Laden, in welchem Hauser das Kästchen gekauft hatte. Ähnliche Dreistigkeiten begleiteten seine Unwahrheiten häufig, und er hatte dabei nichts zu riskieren. Forschte man der Wahrheit nicht weiter nach, – so war's gut; und kam man seinen Unwahrheiten auf die Spur, – so hatte sie eben das große Kind gesagt und man durfte die Erscheinung nicht unnatürlich finden.
4. Beispiele von Unwahrhaftigkeit aus der Zeit seines Aufenthaltes bei mir.
Ich bin in Verlegenheit, aus der Ma**e von offenbaren, d. i. vollkommen erwiesenen Unwahrheiten einzelne auszuwählen. Sie können denjenigen, die nicht sein Benehmen überhaupt damit in Zusammenhang gesehen haben, zum Teil recht wohl als unbedeutend erscheinen, und ich vermag mich vielleicht kaum von dem Vorwurfe des Kleinlichen zu retten. Bei mir hat indes jede Unwahrheit Hausers ihre Bedeutung erhalten, sowie ich mir auch das außerordentlich Unwahre seines Charakters im ganzen anders erklären muß als dies so häufig zu geschehen pflegt. Von einem Kinde wird sich Hauser bei seinen Lügen wesentlich unterscheiden,
1. dadurch, daß er eine solche auch nie zugestand, bis man ihm den Beweis ganz sichtbar vor Augen stellen konnte. Gründe für die höchste Unwahrscheinlichkeit, ja fast Unmöglichkeit seiner Vorgebungen, selbst unter Annahme des mildernden und entschuldigenden Umstandes, daß er sich ja wohl geirrt haben könne und müsse –, vermochten ihn nicht zum Rückzuge zu bewegen, wenn er einmal etwas als bestimmt behauptet hatte; 2. dadurch, daß er sich noch häufiger unwahr zeigte, um wichtig und interessant zu erscheinen, für sich einzunehmen, sich einzuschmeicheln usw., als – um Fehler damit zu entschuldigen, während nach meinen Erfahrungen beim Kinde gerade das Gegenteil der Fall ist. Und nun einzelne Beispiele.
1. Es war gleich in den ersten Tagen, die Hauser unter meiner Aufsicht zubrachte, als er in der Ressource mit anhaltender Aufmerksamkeit und sichtbarem Interesse dem Billardspiele zusah, die hübschen kleinen Kugeln bewunderte und seine kindliche Freude [Fußnote] bezeugte. Von einem Mitgliede aus der Gesellschaft gefragt, ob er noch nie habe Billard spielen sehen, antwortete er: nein – dies habe er noch nie gesehen, es gefalle ihm aber sehr gut, und zog nun durch sein weiteres Benehmen die fernere Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf sich. Mehreren Augenzeugen fiel damals sein Benehmen sogleich auf, und mich mußte es um so mehr befremden, als er mir schon selber gesagt hatte, daß er mit Herrn Professor Daumer öfters im Rösselschen Kaffeehause gewesen sei, wo doch gewöhnlich viel Billard gespielt wird. Später erkundigte sich außer mir namentlich Herr Rechnungsrevisor Veit deshalb in Nürnberg und dieser erfuhr, wie ich, daß Hauser daselbst oft habe Billard spielen sehen. (Herr Professor Daumer und dessen Frau Mutter sagten mir unlängst, daß er, seiner ihnen gemachten, eigenen Mitteilung gemäß, während er in ihrer Pflege war, dem Billardspiele zugesehen und wenigstens einmal auch selbst gespielt habe.)
2. Hauser hatte große Anhänglichkeit an Herrn Grafen Stanhope an den Tag gelegt, und da man ihm ein zartes Gefühl zuschrieb, so suchte man ihn an dem Tage, an welchem im Januar 1832 der Herr Graf von hier abreiste, zu zerstreuen, damit er sich nicht zu sehr dem Schmerze der Trennung hingeben möge. Es wurde deshalb ein Ausflug nach Triesdorf mit ihm gemacht. Bei seiner Rückkehr schien er sehr verstimmt, klagte über Kopfweh und sagte, daß er den ganzen Tag über sehr traurig gewesen wäre. Mir war hier sein Benehmen nach dem Elektrisieren noch im frischen Andenken, und ich wollte ihn daher nun etwas auf die Probe stellen. Zu dem Ende ging ich in der Nacht zweimal, und zwar einmal vor und einmal nach Mitternacht, an seine Türe, drehte den Schlüssel, klopfte mäßig an und rief ebenso einige Male: Hauser! Wer nicht hörte, war Kaspar Hauser, und wer am Morgen auf meine Frage, wie er denn geschlafen habe, antwortete: »Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugebracht; mein Kopfweh hat mich keine Minute schlafen la**en, auch habe ich viel geweint,« war wieder Kaspar Hauser. – Von diesem Vormittage an aber war seine Stimmung wieder so, als hätte er gar nichts zu vermissen, als wäre Herr Graf Stanhope gar nie in Ansbach gewesen.
Stellte jedoch die zärtliche Teilnahme seiner Freundinnen bisweilen Fragen an ihn, wie: »Aber, lieber Hauser, der Abschied vom Grafen ist Ihnen gewiß recht schwer gefallen usw.?« so bejahte er dieses nicht nur, sondern es fiel ihm dann, seinen Äußerungen zufolge, die Abwesenheit des Herrn Grafen fortwährend äußerst schwer und schmerzlich.
3. Im Winter vom Jahre 1832/33 wurde Hauser von einer vornehmen hochverehrten Familie dahier öfters ins Theater eingeladen. Er besuchte da**elbe gerne. Es war ihm dort lieber, was gewiß am allervorzüglichsten erscheint, als beim Unterricht zu Hause. Doch kamen mir die Einladungen fast zu oft, und am Ende mußte ich glauben, er möchte wohl nicht so oft eingeladen werden als er vorgab. Ich verschaffte mir dann bald die Überzeugung, daß er sich häufig ein Billett an der Ka**e kaufte, wenn er zu Hause vorgegeben hatte, er wäre eingeladen. Dies gestand er mir später bei folgender Gelegenheit selber zu.
Herr Oberleutnant Hickel tat eines Vorfalls wegen seinen Bedienten schnell weg. Hauser kam dabei in Verlegenheit und der Bediente besuchte ihn noch einige Tage nach einander fort, nachdem er schon aus dem Dienst war. Mir und meiner Frau fiel dieses auf und als wir die Magd fragten, ob sie nicht wisse, warum wohl der Bediente noch immer zu Hauser komme, erfuhren wir durch dieselbe, daß Hauser öfters Geld von ihm entlehnt habe und ihm gegenwärtig noch einige Gulden schuldig sei, die er ihm nicht ganz zahlen könne, bis er heute oder morgen vom Herrn Leutnant Hickel sein Taschengeld erhalten werde. Auch von ihr, sagte sie, entlehne er öfters 12, 24, 30 kr. und etwas mehr, zahle ihr's aber immer bald wieder.
Auf diese Erfahrung hin erhielt nun Hauser eine tüchtige Rüge. Sie war indes nicht die erste. [Fußnote] Andere unwahre Erscheinungen, die ich ihm einleitungsweise vorhielt, leugnete er wieder auf die entschiedenste Weise ab und war fast derb gegen mich, bis ich auf seine Geldgeschichte mit dem Bedienten und der Magd einlenkte und ihm anzeigte, daß ich morgen davon Herrn Präsidenten und Herrn Leutnant Hickel in Kenntnis setzen würde.
Jetzt wurde er einige Augenblicke ganz stille und nachdenkend, fing darauf an zu weinen, reichte mir die Hand und bat, ich möchte doch nur diesmal nichts sagen, er wolle mich gewiß nicht mehr anlügen, mir künftig alles sagen, was er täte, nur diesmal sollte ich es ihm noch verzeihen und ihm wieder gut werden.
Da er auf meine Frage, wozu er denn das entlehnte Geld nötig gehabt hätte, sich hin und her wandte, und in dem Augenblicke schon wieder nicht recht mit der Wahrheit herauskommen wollte und konnte, so half ich ihm selber auf das Theater, und nun gestand er mir zu, daß er oft von seinem Gelde dahin gegangen sei, auch bisweilen den Damen für sein Geld etwas habe aufwarten la**en.
Hierauf versprach ich ihm, seine dermalige Bitte erfüllen zu wollen, kündigte ihm aber voll Ernstes an, ihn auf der Stelle aus dem Hause zu tun, sobald er mir von jetzt an wieder mit einer Lüge oder sonstigen Unredlichkeiten komme. Am Schlusse redete ich ihm ebenso ernstlich als freundlich ins Gewissen, und er versprach unter einem Flusse von Tränen vollkommene Besserung.
Allein – wie lange hielt er Wort? Wohl kaum drei Tage. Dies mag das folgende Beispiel dartun.
4. Kaspar Hauser hatte auch die Untugend, häufig noch das Licht brennen zu la**en, nachdem er sich schon in das Bette begeben hatte. Natürlich schlief er so bisweilen ein und ließ das Licht hinunterbrennen. Die Magd, welche dies früher an Licht und Leuchter schon öfters zu deutlich bemerkte, sagte es meiner Frau, diese mir, und ich stellte ihn darüber einige Male zur Rede. Er gestand die Beschuldigung durchaus nie zu, blieb stets bei den unnatürlichsten Entschuldigungen stehen und ich mußte mich so immer auf die gehörige Warnung beschränken. Drei Tage nach obiger Rüge bringt er morgens der Magd seinen messingenen Leuchter mit abgebrochener Handhebe selbst in die Küche und sagt, da sei ihm von demselben beim Anfa**en die Handhebe abgebrochen, sie möge den Leuchter sogleich zum Machen forttragen. Die Magd brachte aber den Leuchter zuerst meiner Frau, um zu zeigen, daß die Handhebe nicht herabgebrochen, sondern herabgeschmolzen sei. Wir fanden die Röhre ganz hinunter von der Hitze des Lichts inwendig schwarzgrau gebrannt und von außen durchaus bläulich und rötlich geflammt. In der Schale unten konnte man deutlich sehen, wie hoch das zerflossene Unschlitt heraufging und wie da**elbe an einigen Stellen weggekratzt war. Von einem ganzen Licht, das er abends spät erhalten hatte, war auch keine Spur mehr zu sehen.
Aus Schonung wollte ich ihn jetzt nicht schon wieder selber vornehmen, sondern ließ ihn deshalb nur durch meine Frau gehörig instruieren und ihm sagen, daß, wenn er noch einmal, wie in der vergangenen Nacht, das Licht hinunterbrennen ließe, ich ihm, um Unglück zu verhüten, nie mehr ein Licht auf seinem Zimmer bela**en würde.
Diesmal erwartete ich ein Leugnen von seiner Seite um so weniger, als die Sache zu augenscheinlich war und er erst alles Gute versprochen hatte. Allein ich täuschte mich. Kaspar Hauser behauptete gegen meine Frau unter Beteuerungen standhaft – nicht nur, daß ihm die Handhebe vom Leuchter beim Anfa**en heruntergebrochen, sondern auch, daß ihm das Licht nicht hinuntergebrannt sei.
Diese Erscheinung in Verbindung mit gemachten anderen neuen Erfahrungen befestigten mich in der schon länger gewonnenen Ansicht immer mehr: daß dem lieben Kaspar Hauser die Unwahrheit bereits zur anderen Natur geworden sei, daß sie gleichsam das Element sei, in welchem er lebe und daß man eigentlich etwas rein Unmögliches von ihm verlange, wenn man fordere, er solle auf einmal alles Lügen aufgeben und ganz wahr sein.
Von nun an nahm ich mir aber auch vor, seinen Lügen nur in durchaus notwendigen Fällen, und dann noch so schonend als möglich, [Fußnote] entgegenzutreten, und ich war dazu umso mehr berechtigt, als mir ohnehin nur ungerne der gewöhnliche Einfluß des Lehrers auch auf die Erziehung und Charakterbildung zugestanden wurde.
Bei der Ausführung dieses Vorsatzes befand sich mein Kaspar Hauser erst wieder wohl in meinem Hause, und wir kamen so vortrefflich als je miteinander aus.
5. Meine Frau und ich gingen im vorigen Winter eines Abends spät von einer Gesellschaft nach Hause und sahen von der Straße aus bei Hauser noch helles Licht. Um zu sehen, ob er noch auf sei oder ob er das Licht wieder habe brennen la**en, ging ich sogleich an seine Türe, welche von innen verriegelt war, klopfte an und rief, er möchte aufmachen. Es erfolgte keine Antwort. Ich klopfte stärker und immer stärker an, schlug mit der Faust kräftig an die Türe, – Hauser hörte nicht. – Meine Frau vor der Türe la**end, eilte ich schnell wieder auf die Straße, und siehe – das Licht war inzwischen gänzlich verschwunden. Da es jedoch hätte möglich sein können, daß es von selbst zu Ende gegangen wäre, so wollte ich mich genau überzeugen. Ich schlug jetzt nicht nur mit aller Gewalt mittels der Fäuste an die Türe, sondern stieß mit den Absätzen der Stiefel an dieselbe, so daß alle Leute im Hause darüber aufwachten. Später nahm ich ein Beil und wollte die Türe hineinsprengen, was ich aber nicht vermochte. Der schlafende Hauser wachte über all dieses Gepolter nicht auf. [Fußnote] – – Man hätte glauben können, ein Murmeltier hätte aus seinem Winterschlaf aufwachen sollen.
Am andern Tage morgens sagte ich darüber nichts weiter als: er möchte in der Nacht künftig seine Türe nicht mehr von innen verriegeln, sondern nur das Schloß abla**en und den Schlüssel an den bekannten Ort heraushängen, damit man ihn bei einem allenfallsigen Brande nicht einmal verbrennen la**en müßte.
Sein Befremden darüber war unnatürlich, und als ich ihm kurz die Ursache sagte, äußerte er augenblicklich schnell: »Ja, das glaub' ich. Wenn ich einmal schlafe, kann mich kein Mensch, ohne mich anzufa**en und hin und her zu rütteln und zu schütteln, aufwecken. So war's auch in Nürnberg.« Eine Bewunderung dieses Zustandes und eine Fortsetzung des Gesprächs darüber von meiner Seite erwartete er vergebens.
Daß er schwer aufzuwecken war, davon hatte ich mich wohl vorher schon überzeugt. Es traf sich öfters, daß ich ihn besonders zu der Zeit schlafend fand, zu welcher mein Unterricht mit ihm anfangen sollte. Ja – da war er oft nur mit größter Mühe unter Rütteln und Schütteln aufzuwecken, aus seiner Schlaftrunkenheit oft aber gar nicht zu bringen. Leichter ging es mit dem Aufwecken schon zu andern Tageszeiten, Aus seiner Schlaftrunkenheit hatte er sich dann gewöhnlich bald von selbst herausgewunden.
Gelegentlich muß ich hier rücksichtlich seines Schlafes überhaupt bemerken, daß ich ihn nicht so fand, wie man mir von demselben gesagt hatte. Herr Graf Stanhope hatte mir nämlich im Beisein des Hauser bemerklich gemacht, daß dieser abends, wenn die Hühner aufstiegen, d. h. eben bald, ins Bette zu gehen und morgens mit Tagesanbruch wieder aufzustehen pflegte, daß er dies wohl tun müßte, indem er den Schlaf weder übergehen, noch längere Zeit als gewöhnlich unterhalten könnte, – eine Erscheinung, die sich auf seinen früheren Zustand gründete.
Bei mir konnte Hauser, wie jeder andere gewöhnliche Mensch, früh oder spät ins Bette gehen, längere und kürzere Zeit schlafen, je nachdem es die Umstände gaben. Er ging bisweilen abends um 9 Uhr schlafen und stand morgens erst um 8 Uhr auf, schlief aber öfters auch nur von nachts 11, auch 12 Uhr an bis 6 und 7 Uhr morgens. [Fußnote]
6. Im Dezember 1832 wurde einige Veränderung in Hausers Ökonomie vorgenommen. Er hatte jetzt eine Wäscherin nötig und wollte sich von meiner Frau eine solche rekommandieren la**en. Ich wies ihn an Herrn Oberleutnant, welcher die Ökonomie gewöhnlich gern allein besorgte, mit dem Bemerken, daß, wenn Herr Oberleutnant oder dessen Gemahlin nicht schon eine Wäscherin für ihn hätten oder wüßten und sie es wünschten, ich ihm eine solche und zwar diejenige empfehlen würde, die mir in meinem ledigen Stande einige Jahre zu meiner vollen Zufriedenheit gewaschen hatte. Er fragte mich deshalb nicht wieder, und es kam auf Bestellung dieselbe Wäscherin zu ihm, die ich ihm empfohlen haben würde. Als ich ihn nun fragte, wer ihm diese empfohlen hätte, erwiderte er ohne Zögern: »Die Degenfelds Köchin.« Ich hatte ihn weder das Haus des Herrn v. Degenfeld, noch den Namen dieser Köchin je nennen hören und fragte ihn deshalb weiter, wo er denn mit der Degenfelds Köchin zusammenkäme, und er entgegnete: »Sie war bei der Feuerbachs Köchin, und da hab' ich sie gefragt.« Dies hörte meine damalige Magd, welche überhaupt glaubte, daß Hauser nicht so unerfahren wäre, als er aussähe (ihre eigenen Ausdrücke) und sagte darauf zu meiner Frau, sie solle es nur nicht glauben, daß ihm die Degenfelds Köchin die Wäscherin rekommandiert hatte, sie wäre ihm von niemanden rekommandiert worden als von der Wild, die im Institut drüben auskehrt. (Die Wild ist ein wohlgestaltes, leidentliches Mädchen, welches in der höheren Töchterschule die Reinigung besorgt; das Fenster von Hausers Stübchen war den Fenstern von dieser Schule gegenüber.) In diese Wild wäre er verliebt, er spräche mit ihr, so oft er nur könnte, zum Fenster hinüber, und diese Wild wäre die Pate von der Wäscherin usw. Ich fragte später die Wäscherin darüber und erfuhr durch dieselbe, daß meine Magd wirklich recht hatte.
Die Wild selber, die ich zu mir kommen ließ, sagte mir, daß ihr Hauser abends, als es schon etwas dunkel wurde, auf dem Obstmarkte begegnet sei, sie angeredet und gefragt habe, ob sie ihm keine gute Wäscherin wisse, daß sie ihm ihre Pate empfohlen und dieselbe seinem Auftrage gemäß zu ihm bestellt habe.
Dabei äußerte sie auf meine Veranla**ung zugleich weiter: Hauser sei oft ans Fenster gekommen, wenn sie im Institut ausgekehrt habe, er habe sie anfangs nur gegrüßt, dann aber zu ihr häufig hinübergeredet, bisweilen einen Apfel und sonstiges Obst ihr hinübergeworfen usw. Einmal habe sie auch ihr Kind (uneheliches) bei sich am Fenster gehabt; da habe er sie gefragt, ob das ihr Kind sei, und auf ihre Erwiderung: »Das wäre schön, – wenn ich schon ein solches Kind hätte!« lächelte er und sagte: »Ich weiß doch, daß es Ihnen gehört, wenn Sie es gleich nicht sagen; ich hab's schon erfahren.« Weil aber die Schuhmachergesellen daneben (am nächsten Fenster neben Hausers Stübchen arbeiteten nämlich die Gesellen des Schuhmachers Heisinger) und meine Magd öfters über sie gespottet und ihr nachgesagt haben, sie stelle sich ganze Stunden lang vors Fenster, um mit Hauser zu reden, so habe sie später die Reinigung des Instituts ihre kleine Schwester besorgen la**en.
Will man hieraus nicht abnehmen, daß er den Unterschied des Geschlechts deutlicher gefühlt und erkannt habe, als er durch sein Benehmen wie durch seine Äußerungen so oft glauben machte, so mag doch um so deutlicher daraus hervorgehen, daß er keinen Augenblick um eine Lüge verlegen war und daß er bei den gleichgültigsten Dingen nicht bei der Wahrheit stehen bleiben konnte. Ich entnehme übrigens daraus vorzugsweise ersteres, denn gerade dadurch, daß er statt der Wild eine andere Person nannte, bewies er, daß er in bezug auf dieselbe befangen war. [Fußnote]
Es erscheint das freundliche Benehmen Hausers gegen die Wild aber um so auffallender, als er sonst gegen Personen aus der dienenden Kla**e nichts weniger als herabla**end und artig, vielmehr hochmütig und unbescheiden, ja nicht selten sehr unbillig war. [Fußnote] Auch Handwerks- und gewöhnliche Handelsleute behandelte er in der Regel geringschätzig. Ich habe ihn deshalb öfters zur Rede gestellt. Er kam mir in dieser Beziehung stets vor wie so mancher Alltagskopf, der, durch die Umstände über seinen Stand gestellt, eingebildet und hochmütig geworden ist und der sich gefällt, gegen seine natürlichen Standesgenossen den bemerklichen Herrn zu spielen. So oft der Diener, aus welchem die Verhältnisse einen Herrn gemacht haben, und ebenso die Magd, die unverhofft zur Frau geworden ist. –
Meiner damaligen Magd, einem sehr ordentlichen und verständigen Mädchen, wurde er auf obige Geldgeschichte mit dem Bedienten und nach den gestörten Unterhaltungen mit der Wild so sehr abgeneigt, daß er gegen meine Frau beständig über sie klagte und sie äußerst gerne wandern sah. [Fußnote]
7. Nach der letzten hiesigen Laurentiusmesse (1833) bemerkte ich bei ihm einen neuen goldenen Siegelring. Ich vermutete anfangs, er werde ihn zum Geschenke erhalten haben, mußte aber meine Vermutung bald ändern, da er diesmal weder mir noch meiner Frau etwas von einem Geschenke sagte, während ihn sonst seine Eitelkeit keinen Augenblick säumen ließ, erhaltene Geschenke vorzuzeigen. Als ich mich deshalb veranlaßt sah, ihn zu fragen, wo er denn diesen Ring her habe, sagte er mir und meiner Frau, unter Angabe mehrerer Nebenumstände, er habe denselben auf der Messe um 9 fl. gekauft und Herr Oberleutnant Hickel, welcher ihn für sehr billig halte, habe ihn bezahlt. Bald darauf ging er zum Volksfeste nach Nürnberg und nach seiner Zurückkunft waren die Buchstaben K. H. oder C. H. darauf gestochen. Daß er solche in Nürnberg habe darauf stechen la**en, sagte er selbst. Dies alles fand ich ganz natürlich und darum zweifelte ich diesmal nicht an seinen Angaben. Teilweise waren sie gewiß auch wahr.
Herr Oberleutnant Hickel, mit welchem ich später gelegentlich über fraglichen Ring zu sprechen kam, sagte mir indes, daß er nichts weniger als den Ring gekauft. Hauser vielmehr zu ihm gesagt hatte, er wäre ein Geschenk von der Gräfin von Harrach, welche ihn auf einer Durchreise besucht, und ihm nun diesen Ring geschenkt hätte. Die Frau Gräfin hieße Karoline, ihre Namen hätten deshalb gerade dieselben Anfangsbuchstaben wie die seinigen, und darum hätte sie ihm gerade einen Siegelring als Andenken gegeben. [Fußnote]
Da**elbe soll er bei Gelegenheit auch zu Herrn Pfarrer Fuhrmann und zu dem Lithographen Herrn Oettel gesagt haben.
Auf solche Weise wußte er selbst diejenigen, welche ihn näher kannten, fortwährend zu täuschen. –
Ich könnte diese Beispiele wohl ums Zehnfache vermehren. Allein wer hieraus nicht entnehmen kann und will, daß Hauser etwas mehr als ein einfältiges, lügenhaftes Kind war, kann und will es in mehreren Beispielen auch nicht sehen.
Einige wichtige Beispiele von Unwahrhaftigkeit werde ich jedoch weiter unten bei andern Abschnitten noch geben müssen.
f.
Kaspar Hauser behielt bis zu seinem Ende einen Dialekt und Schulton, auch war er mit München und Umgegend nicht unbekannt.
Kaspar Hauser war so sehr an den altbayerischen Dialekt gewohnt, daß er sich von diesem bis zu seinem Ende nicht ganz loszumachen vermochte. In einzelnen Wörtern zeigte sich derselbe oft ganz auffallend, weniger jedoch im freien Gespräch als beim Lesen und Hersagen auswendig gelernter Stellen. So las er z. B. häufig statt der Sohn – der Sonn, statt die Sonne – die Sohne, für Staat – Statt, für Höhle – Hölle, für Gefühl – Gefüll usw. In dem Worte vigil und andern, sprach er den Hauchlaut des g=ch nie dem Lehrer nach, sondern ließ stets den gelinden Stoßlaut – ähnlich dem des k – hören. Mir fiel diese Erscheinung gleich in den ersten Stunden, in welchen er bei mir las, nicht wenig auf und ich fragte ihn deshalb sogleich, wo und wie er denn zu diesem Dialekt gekommen sei. Darauf erwiderte er mir: der Gefängniswärter Hiltel in Nürnberg, bei welchem er das Sprechen gelernt hätte, wäre ein Altbayer, und von dessen Dialekt hätte er sehr viel angenommen.
Wäre ich sein Inquirent gewesen, so hätte ich mich bei dieser Erklärung nicht beruhigen können. Denn angenommen, daß Hiltel den altbayerischen Dialekt spricht, [Fußnote] und daß er in der ersten Woche viel mit Häuser verkehrte, so wurde in dieser Zeit gewiß doch weit mehr von Hiltels Familie, besonders dessen Sohne Julius, und nach den häufigen Besuchen, die wohl selten einen altbayerischen Dialekt haben mochten, mit ihm gesprochen. Nach einigen Wochen kam er aber schon zu einem Lehrer, bei dem er stets ein reines Deutsch sprechen hörte, und seitdem war er in beständigem Umgange mit Personen, von denen er nichts weniger als den altbayerischen Dialekt vernehmen konnte. Es sollen aber fünf Jahre nicht hingereicht haben, aus seiner Sprache das zu verwischen, was ihm einige Wochen doch nur in geringem Maße hätten aufdringen können? Ich kann mir dies nicht erklären. Meine Erfahrungen als Lehrer zeugen vom Gegenteile. Auch das Wort »abkratzen«, welches am letzten Abend seines Lebens bei ihm vernommen wurde, ist in Altbayern ganz zu Hause.
Ebenso auffallend wie sein Dialekt mußte mir stets sein Schulton erscheinen, in den er ebenfalls beim Lesen und Memorieren gewöhnlich verfiel. Einen Leseton, wie ich ihn bei Kaspar Hauser oft nicht verkennen konnte, trifft man nur in Schulen, vorzüglich in Landschulen an, deren Lehrer noch dem Mechanismus huldigen. Nie habe ich noch gefunden, daß sich ein solcher Ton beim Privatunterrichte herausbildet, am allerwenigsten, wenn ihn Lehrer erteilen, wie sie Kaspar Hauser hatte. Ich kann nicht begreifen, wie seine frühern Lehrer diesen Umstand gleichgültig ansehen konnten. Es müßte nur sein, daß sie mit den Eigentümlichkeiten vieler Volksschulen ganz unbekannt geblieben wären. Seinem Lesetone nach hatte Kaspar Hauser früher eine gewöhnliche Schule besucht, und es dürfte dies umso wahrscheinlicher sein, als er bei seinem Erscheinen in Nürnberg schon ziemlich wacker schreiben und, wie behauptet wird, auch lesen konnte. [Fußnote]
So viel ist gewiß, daß in Bayern jährlich noch mehr als eintausend Schüler aus der Volksschule entla**en werden, die nicht mehr können, als Kaspar Hauser gleich anfangs in Nürnberg zeigte. – Diesen Satz wird jeder erfahrene Volksschullehrer bestätigen. In Gegenden, wo der Schulbesuch noch sehr schlecht ist, findet man bei Kindern unordentlicher Eltern, gewissenloser Dirnen usw. diese Erscheinung gar nicht selten. Die Militärs mögen es bezeugen, wie viel noch jährlich Rekruten eingereiht werden, die ihren Namen kaum schreiben können, obgleich sie 6 Jahre lang eine Schule besucht haben. Bei Gelegenheit eines Gesprächs über München legte er gegen mich eine ziemliche Lokalkenntnis von dieser Stadt an den Tag. Er wußte die Residenz, den Hofgarten, englischen Garten, das Ständehaus, das Karlstor, die Au usw.
Überrascht durch seine diesfallsigen Äußerungen fragte ich ihn, woher er denn zu der Bekanntschaft mit München gekommen wäre? und erhielt die befriedigende Antwort, daß er ja mit Herrn Baron von Tucher und Herrn Leutnant Hickel in München war, als sie die Reise nach Ungarn machen wollten, in Wien oder Preßburg aber wegen der Cholera wieder umkehren mußten. [Fußnote] Er nannte dabei von München bis Braunau nicht nur alle Poststationen, sondern auch mehrere unbedeutendere Orte, die sie pa**ierten, was mich damals sein gutes Gedächtnis bewundern ließ. Auch die Lage von Burghausen war ihm ganz genau bekannt. Nach seinem Tode erst erfuhr ich jedoch durch Herrn Oberleutnant Hickel, daß er jenesmal in München absichtlich keinen Schritt weit aus dem Hause kam, in welchem abgestiegen wurde, und daß er bei jener Gelegenheit von München so viel als nichts sehen konnte. [Fußnote]
g.
Er zeigte viele körperliche Stärke und Gewandtheit.
Wenn seine Muskeln so lange (wie bei Kaspar Hauser angenommen wird), ohne allen Gebrauch und ohne alle Übung gewesen wären, so hätten dieselben unmöglich die Kraft und Stärke bekommen können, welche sie wirklich hatten. Ich besitze bei meinem untersetzten Körperbau eine ziemliche Muskelkraft, und kann mehr heben, tragen usw. als mancher, dem ich an Größe weit nachstehe. Kaspar Hauser war aber stärker als ich. Ich war z. B. nicht imstande, ihm seinen Arm zu biegen, er bog mir dagegen den meinigen mit Gewandtheit. Da**elbe tat er einem Freunde von mir mit noch größerer Leichtigkeit. Hob ich mit ihm gemeinschaftlich eine Kommode, einen Koffer, einen Schrank usw., so war er damit stets zuerst in der Höhe und hielt beim Tragen weit länger aus als ich. [Fußnote]
Besonders viel Festigkeit, Kraft und Geschicklichkeit besaß er auch in seinen Fingern. Letztere konnte er sich jedoch durch sein früheres Papparbeiten in Nürnberg erworben haben. Kuverte über Briefe machte er so akkurat und schnell, wie es nur selten jemand zu tun imstande sein wird. Meine Frau äußerte öfters: »Hauser hat in seinen Fingern eine außerordentliche Geschicklichkeit, er weiß sie fast besser zu gebrauchen als ich, die ich mich doch von jeher viel und gerne mit seiner Frauenzimmerarbeit beschäftigt habe.« Das Packen der Kleider verstand unter all seinen Bekannten niemand so gut wie er. Er packte deshalb gewöhnlich den Koffer, wenn solche verreisten. Man hätte bald versucht werden können, ihn für einen gelernten Schneider zu halten, um so mehr, als er – seiner Angabe nach auf Veranla**ung seines ersten Erziehers in N. – ein Kästchen mit Zwirn, Nadel, Schere usw., also ein Nähzeug führte, um, wie er sagte, sich einen herausgerissenen Knopf selber wieder hineinnähen und andere Kleinigkeiten selbst machen zu können. Nicht minder konnte man versucht werden, ihn für einen gelernten Säckler und insbesondere Handschuhmacher zu halten, da er Leder überhaupt, da**elbe und Macherei bei Handschuhen aber so gut beurteilte, daß er einige Male aus einem Dutzend derselben zur größten Verwunderung des Fabrikanten wirklich in jeder Beziehung das beste Paar herausgefunden hatte.
Eine auffallende Festigkeit seiner Finger bewies er oft dadurch, daß er sich öfters und gerne darauf einließ, mittelst des Zeige- und Mittelfingers einem anderen auf dieselben beiden Finger einen Schlag zu geben und sich dagegen immer wieder einen geben zu la**en. Ich versuchte dieses Spiel selbst einige Male mit ihm, konnte es ihm aber nie gleich tun, sondern mußte unter schmerzhaften Empfindungen, die mir seine schwer und fest wie Holz auffallenden Finger an den Spitzen der meinigen verursachten, aufhören, seine Überlegenheit anerkennen und mich von ihm deshalb auslachen la**en ...
In seinen Füßen hatte er so viel Gewandtheit und Sicherheit als nur einer. Er lief die nicht eben bequemen Stiegen des Hauses in der Regel mit einer Schnelligkeit und Leichtigkeit auf und ab, wie es außer mir im Hause niemand mehr tut.
Bei einem Kegelschieben in der Ressource dahier schob er im Sommer 1832 unter allen anwesenden Keglern die stärkste Kugel mit sicherem Aufwurfe. Dessenungeachtet äußerte er in demselben Sommer in Lichtenau, als ihn der Herr Revierförster Grießmeier aufforderte, mitzukegeln: »Ja, so stark bin ich noch nicht; eine solche Kugel bis zu den Kegeln hinauszuschieben, wäre ich nicht imstande. [Fußnote] In Nürnberg galt er indes bis zu seinem Abgange von dort als der schwache Hauser, dessen Mattigkeit und Unbeholfenheit fortwährend Mitleid erregte. –
h.
Solange er in meinem Hause war, konnte er alle Speisen wie jeder andere gesunde Mensch vertragen.
Als ich Hauser in die Pflege bekam, wurde mir bezüglich der Kost unter anderem bemerkt, daß er einige Speisen, wie z. B. Schweinefleisch, besonders aber Gewürze, immer noch nicht vertragen könne, daß er deshalb zu seinem Frühstücke auch keine Gewürzschokolade, sondern sogenannte Gesundheitsschokolade genieße, und daß eben seinen Speisen nur ganz wenig Gewürz zugesetzt werden solle.
Um der lästigen Führung einer doppelten Küche womöglich auszuweichen, wollte ich erst den Versuch machen la**en, ob er wirklich die Speisen, wie sie bei mir gewöhnlich zubereitet werden, nicht vertragen möchte. Es wurde deshalb gleich vom ersten Tage an auch nicht die geringste Abänderung in meiner Küche gemacht und Hauser am Tische gefragt, ob er den Zusatz von Gewürz so recht finde usw. Er erklärte denselben für ganz getroffen und aß, mit Ausnahme von Schweinefleisch, das er bei mir gar nie versuchte, hinfort alles, was ihm vorgesetzt wurde. Auch Bratwürste von purem Schweinefleisch aß er nicht ungerne.
Nach einiger Zeit war meiner Frau die Gesundheitsschokolade ausgegangen und sie ließ zu seinem Frühstücke einmal Gewürzschokolade nehmen. Hauser fragte, von wem jene Schokolade wäre, rühmte die Güte derselben und bat, man möchte sie immer dort nehmen. Ohne mein Wissen erhielt er von nun an sein Frühstück von der Gewürzschokolade und er befand sich dabei fast zwei Jahre lang vollkommen gesund. Er bedurfte keines Tröpfchens homöopathischer Arznei. Die Sorgfalt des Herrn Grafen Stanhope hatte ihm auch ein Kästchen – mit vielen Gläschen von solcher Arznei gefüllt – aus Nürnberg kommen la**en. Allein Hauser sah sie gar nicht an. Ich erinnerte mich nicht, sie später noch bei ihm gesehen zu haben. Wenn sie sich nicht noch in seinem versiegelten Bücherschrank befinden, so hat er sie am Ende gar vernichtet.
Was die Getränke im allgemeinen anbelangt, so enthielt sich Hauser aller berauschenden Getränke, sie mochten diese Eigenschaften mehr oder weniger haben, als des Weines, Bieres usw., fortwährend gänzlich. Sogar das doch den kleinsten Kindern unschädliche weiße Bier, von dem er auf meine Veranla**ung zweimal nur ganz wenig in den Mund nahm und das wenige unter auffallender Geberdung nur zum Teil verschluckte, verursachte ihm, wie er jedesmal bald darauf klagend äußerte, bedeutendes Mißbehagen. Tee wollte er anfangs bei mir auch nicht trinken können, trank ihn aber später oft in Gesellschaften, um dieser willen, wie zu erwarten stund ohne jede nachteilige Wirkung. [Fußnote]
i
Er bewies, solange er bei mir war, mit der Tat nie, daß er sich fürchtete.
Mir war es anfangs unheimlich, wenn ich nachts mit ihm ging, und ich konnte nicht umhin, mich bisweilen umzusehen. Ich müßte aber lügen, wenn ich sagen wollte, daß Kaspar Hauser an meiner Seite je auch nur eine kleine Furcht oder Ängstlichkeit gezeigt, daß er sich je einmal umgesehen hätte usw. Den Tennen meiner Wohnung hatte Herr Graf Stanhope zur Sicherheit seines Pflegesohns durch ein Gatter verschließen la**en, zu welchem kein Unbekannter ohne vorherigen Ausweis eingela**en wurde. Ich und die Meinigen hätten in der ersten Zeit das Geschäft des Fragens und Öffnens bei mancher unfreundlichen Gestalt gerne andern überla**en. Hauser hatte den Auftrag, gar nie an das Gatter zu gehen, wenn geläutet wurde, allein er fragte, wenn nicht gleich jemand bei der Hand war, bald die Leute, wer sie seien, und machte ohne alles Bedenken auf. Meine Warnungen und Verweise suchte er durch die Entgegnung zu entkräftigen, er sehe es den Leuten schon von ferne an, ob sie gefährlich wären oder nicht, er begäbe sich in keine Gefahr usw.
Es ist diese Erfahrung nicht weniger auffallend als jene in Nürnberg, wo er nach dem geheimnisvollen Mordversuch nie den andern Abtritt besuchte, welchen man ihm zur Vermeidung schauerlicher Rückerinnerung angewiesen hatte, vielmehr fortwährend auf denselben Abtritt ging, wo ihm [Fußnote] das Attentat begegnet war.
Wurde übrigens auf die gewöhnliche einfältige Weise gefragt: »Aber, lieber Hauser, – Sie müssen sich doch oft recht fürchten, wenn jemand, den Sie nicht kennen, auf Sie zuzugehen scheint, oder wenn Sie bei der Nacht gehen usw.« –, so lebte er natürlich in großer Furcht. In anderer Beziehung gewahrte ich oft eine Art Furcht oder Verlegenheit an ihm. Dies war z. B. der Fall, wenn er sich unverhofft von einem Nürnberger, der ihn früher näher kannte, überrascht sah. [Fußnote]
So fuhr er einmal, als er in mein Zimmer trat und den Herrn Magistratsrat Schnerr mit einem andern Bekannten erblickte, bei ganz scheuem Blicke sichtbar erschrocken zusammen und geriet in eine Verlegenheit, aus der er sich nicht augenblicklich reißen konnte. Herr Magistratsrat Schnerr, bei welchem er bald nach seinem Auftreten zu Nürnberg in Pappe arbeiten lernte, hatte ihn natürlich ganz in seinem ersten Zustande gesehen; – der andere Bekannte, ein Ungar, hatte früher auch Versuche in der ungarischen Sprache mit ihm angestellt, und, wenn ich mich noch recht erinnere, die Ansicht des Herrn von Pirch nicht teilen wollen.
Alle Nürnberger fanden, daß sich Hauser in Ansbach äußerlich recht bald recht sehr zu seinem Vorteile verändert, daß er im Benehmen bedeutende Fortschritte gemacht habe usw.
Sollte er sich vielleicht dabei vor älteren Bekannten gescheut haben!? –
k.
Kaspar Hauser übte gegen niemanden eigentliche Dankbarkeit.
Wenn man an dem Grade der Dankbarkeit mit Bestimmtheit den Grad der Güte eines Menschen bemessen könnte, dann erschiene Hausers innere Güte wahrlich nicht groß. Nachdem er von den Daumerschen weg war, sprach er gegen die Biberbachschen und andere nachteilig von den ersteren, und namentlich von der würdigen Frau Mutter des Herrn Professors Daumer. Den Biberbachschen sagte er allenthalben und namentlich auch bei Herrn Bürgermeister Binder Unwahres und ihnen Unangenehmes nach.
Wie er sich gegen die v. Tucherschen in hohem Grade undankbar, ja förmlich ungehalten aussprach, haben, außer mir und meiner Frau, Herr Oberleutnant Hickel und mehrere von ihm unmittelbar vernommen.
Daß er sich bei mir ganz froh und glücklich fühlte, sich so behandelt zu sehen, als ob er zur Familie gehörte, daß es bei Herrn v. Tucher nicht so gewesen sei, daß man ihn dort stolz und hart behandelt, stets zurückgewiesen und nur immer gesagt habe, wenn er reden wollte: »Das verstehst du nicht, du mußt das Maul halten,« daß er gewöhnlich den ganzen Tag ohne Umgang mit Menschen auf seinem Zimmer habe allein zubringen müssen, daß er häufig, wenn Gesellschaften oder musikalische Kränzchen gegeben worden seien, erst nachts um 10, 11 Uhr sein Abendessen erhalten habe, daß er nicht einmal habe seine Bekannten, und diese ihn nicht haben besuchen dürfen, daß Herr v. Tucher ihn sogar um die Bekanntschaft des Herrn Grafen, der für ihn doch nun so gut sorge, habe bringen, und dann die Fortsetzung derselben nicht habe leiden wollen, daß Herr v. Tucher, was schlecht sei und niemand tun dürfe, Briefe von ihm an Herrn Grafen von der Post zurückgenommen habe: diese und ähnliche Äußerungen im ungehaltenen Tone konnte man in den ersten Tagen seines Hierseins häufig hören. [Fußnote]
Zu seiner Entschuldigung möchte ich jedoch bemerken, daß er sowohl von Seite des Herrn Staatsrats v. Feuerbach als des Herrn Grafen Stanhope das Verfahren des Herrn v. Tucher tadeln hörte. Allein, wenn man der Sache freilich wieder näher auf den Grund sehen will, so wurden eben beide Männer doch eigentlich erst durch die geschickt angebrachten Klagen von Hauser zu ihrer Ansicht bestimmt. Nachdem ich Hauser einige Male entgegnet hatte, daß man Herrn Baron v. Tucher hier von einer ganz niedern (= leutseligen, Der Herausg.) Seite kenne, daß man ihn nichts weniger als stolz usw. usw. gefunden habe, daß ich daher glaube, er, Hauser, tue ihm, Herrn Baron v. Tucher, doch etwas unrecht, suchte er mich durch Beispiele für seine Ansicht zu gewinnen; und von welchem konnte er sich wohl bei mir bessere Wirkung versprechen als von folgendem:
»Ich habe mich oft geärgert,« erzählte er mit nachdrücklichem Tone und einnehmender Gebärdung, »wenn Herr v. Tucher geringere Leute hat so lange im Hause stehen und warten la**en. Da war z. B. der Schullehrer N. von Simmelsdorf (dieser Ort gehört Herrn v. Tucher), ein sehr ordentlicher und geschickter Mann, – den ließ er oft stundenlang stehen und warten, bis er ihn abfertigte. So einem Mann, der doch auch etwas gelernt hatte, mußte das recht unangenehm sein usw.« Ich konnte damals sogleich seine Absicht dabei nicht wohl verkennen. [Fußnote] – –.
Das Recht der Vormünder – gleich dem der Eltern –, die von ihren Mündeln oder Kindern ohne ihr Vor- und Mitwissen geschriebenen und auf die Post gegebenen Briefe nach Gutdünken zurücknehmen zu dürfen, ließ er durchaus nicht gelten, wenn ich es ihm durch Beispiele auch noch so klar machte.
Später mußte ich immer mehr geneigt werden zu glauben, er habe, um sich bei Herrn Grafen wegen versprochenen, aber unterla**enen Schreibens zu rechtfertigen, seine Zuflucht zu solcher Lüge genommen, und ich muß es heute noch bezweifeln, ob ihm je Briefe an Herrn Grafen Stanhope von der Post zurückgenommen worden seien. Seine mir bewiesene große Trägheit im Briefschreiben [Fußnote] berechtigt mich zu diesem Zweifel vollkommen.
Konnte er einen an ihm bemerkten Fehler nie wohl ableugnen, so hatte er in der Regel schnell jemand aus seiner frühern Umgebung, auf dessen Rechnung er ihn zu bringen wußte. Er verfuhr hierbei rücksichtslos. Gezeigte Verkehrtheiten in seinen Lernübungen schrieb er stets auf die tadelnswerteste Weise frühern Lehrern zu und suchte mich durch Äußerungen wie: »Ja – so wenn es mir freilich früher gesagt und gezeigt worden wäre, wie Sie es tun usw.« – zu bestechen. Daß er mich dadurch nicht für sich gewinnen und einnehmen konnte, glaubt mir jeder, der mich naher kennt.
Mit dergleichen undankbaren Äußerungen über Herrn Baron v. Tucher, seine früheren Lehrer und andere fuhr er einige Wochen und zwar so lange fort, bis ich ihm aufs unzweideutigste erklärte, daß er sich damit nirgends empfehlen, vielmehr nur gegen sich einnehmen und mich in dem Glauben bestärken könne, von ihm, wenn er einmal aus meinem Hause komme, keine andere Nachrede erwarten zu dürfen. Diese Erklärung tat ihre Wirkung. Auch in bezug auf Herrn Grafen Stanhope zeigte er nicht die geringste wirkliche Dankbarkeit. Durch Worte, die ihm keine Mühe kosteten, – ja, da war er der dankbarste, den es nur geben konnte. Wurde ihm auch in dieser Beziehung auf die gewöhnliche, gutmütige Weise gesagt, daß er gegen den edeln Grafen gewiß recht viel Liebe und Dankbarkeit empfinde, dann konnte er, wie in seinen Briefen, nie genug Worte finden, um seine Gefühle auszudrücken. Dagegen bewies er durch die Tat nicht ein einziges Mal, daß er gegen diesen seinen großen Wohltäter wahrhaft dankbar gewesen wäre. Ich hatte merken können, daß es Herrn Grafen sehr interessiere, alles zu erfahren, was seinem Pflegesohn begegne, was ihn anspreche oder nicht anspreche, einen angenehmen oder unangenehmen Eindruck auf ihn mache usw. Daher machte ich gleich am Tage nach der Abreise des Pflegevaters dem Pflegesohn den Vorschlag: er solle – vom gestrigen Tage anfangend – jeden Abend für die Briefe seines Pflegevaters in möglichster Kürze niederschreiben, womit er sich während des Tages beschäftigt hatte und was ihm Bemerkenswertes begegnet wäre; er könne damit nicht nur seinem edlen Pflegevater große Freude machen, sondern sich selbst den größten Dienst erweisen. Dann könne und wolle ich diese seine kleinen Arbeiten immer als Stilübung gelten la**en; er werde dabei eine ziemliche Gewandtheit im schriftlichen Gedankenausdrucke erlangen und in der Reinschrift, die er gleichfalls nach der Korrektur täglich sehr leicht besorgen könne, immer schon einen fast fertigen Brief an seinen Pflegevater bereit liegen haben. Dieser Vorschlag leuchtete ihm ein, er nahm ihn äußerst bereitwillig an und hatte einige Tage später über diese Art von Tagebuchführung besondere Freude, als er einen Brief von seinem Pflegevater – ganz in derselben Weise verfaßt – erhielt. Herr Graf hatte ihm nämlich von Tag zu Tag seine Reise kurz beschrieben.
Wie lange gefiel es aber dem guten Kaspar Hauser, sich und seinem Wohltäter zulieb diese kleine Mühe zu übernehmen? – Volle 14 Tage. Schon am 16. Tage erklärte er unter allerlei Entschuldigungen, daß er vom gestrigen Tage nichts habe eintragen können, daß er es überhaupt doch nicht für so nötig halte und seinem Pfleger doch lieber in anderer Weise schreiben wolle. Alle meine Gegenvorstellungen waren nun vergeblich.
An die Beantwortung der Briefe seines Pflegevaters ging er fast nie ohne Aufforderung; nicht selten mußte eine solche öfters erfolgen. Gewöhnlich ließ er das Schreiben bis zum letzten Tage anstehen, warf seine Meinung unvollkommen hin und verließ sich auf meine Verbesserung und gänzliche Unterstützung.
Etwas später erhaltene Briefe aus England, in denen er auf der ersten Seite fand, daß über seine Abberufung dahin noch immer nicht entschieden sei, ließ er tagelang liegen, ohne sie ganz zu lesen. Auf eine diesfallsige Bemerkung von mir erwiderte er einmal: »Das andere ist lauter uninteressantes Zeug. – Dies weiß ich schon; und mich kann's ärgern, wenn jemand etwas verspricht und nicht Wort hält. [Fußnote]
Auch in anderer Weise hat er keine Dankbarkeit gegen diesen seinen Wohltäter gegeben.
Wo Kaspar Hauser dankbar erschien, hatte er den Zweck, für sich zu gewinnen. Davon habe ich mich vielfältig überzeugt. Unzweideutige Beweise von Dankbarkeit habe ich von ihm nicht wahrgenommen. Am ersten könnte ich glauben, daß er gegen mich dankbar gewesen wäre, muß aber im besondern wie im allgemeinen bei der Meinung bleiben, daß er es mit mir und den Meinigen keineswegs böse gemeint habe, daß er uns noch weniger als in der Regel den meisten Menschen habe schaden wollen.
Von Herrn Hofrat Hofmann dahier, welchen ausgezeichneten Mann er bei seinem ersten Besuche auch ganz für sich eingenommen hatte, wurde er sogleich bei demselben Besuche (im Februar 1833) aufgefordert, ihm auf sein Gefühl hin zu sagen, wer unter all den Menschen, die er bis jetzt kenne, mit denen er bisher in Verbindung getreten sei, den besten Eindruck auf ihn gemacht habe, wem er den meisten Dank schuldig zu sein glaube, zu wem er sich am meisten hingezogen fühle usw. – und wen nannte Hauser vor all den bedeutenden Männern und Frauen, die miteinander gewetteifert hatten, ihm Angenehmes zu erweisen, seine Wohltäter zu werden? – meine Wenigkeit – unter außerordentlicher Hervorhebung dessen, was er mir zu verdanken habe.
Ich mußte staunen, als mich Herr Hofrat im Beisein einer vornehmen Dame auf die gefühlvollste Weise und mit Vergnügen davon in Kenntnis setzte, und konnte nur denken, daß der schlaue Hauser auch diesmal schon wieder richtiger aufgefaßt hatte als er aufgefaßt wurde. [Fußnote]
Hauser hatte von mir schon einige Male gehört, daß ich wegen seiner zu Herrn Hofrat gehe, daß sich dieser vorzügliche Mann sehr kräftig für ihn verwende, deshalb seinen großen Dank verdiene. Er konnte aus meinen Äußerungen entnehmen, daß ich ihn aus Rücksichten für sein äußeres Wohl in meinem Urteile Herrn Hofrat habe besser erscheinen la**en, als er es verdiene, daß er sich nun aber auch in jeder Hinsicht bessern und mich am Ende bei meinen guten Absichten nicht in Verlegenheit bringen möge. Hausers Absicht, mir obige unverdiente Schmeichelei zu sagen, liegt daher nahe. Ich durfte jene Erklärung um so weniger als den wahren Ausdruck seines Gefühls annehmen, als ich ihn nicht lange vorher noch durch eine sehr ernstliche Begegnung bedeutend von mir abgewendet hatte.
Zu bewundern bleibt es aber immer, wie schnell Hauser leicht reizbare und exzentrische Naturen für sich gewonnen und mit dem Herzen auch den ausgezeichnetsten Kopf gefangen genommen hatte. –
l.
Kaspar Hauser zeigte mir nie ein empfängliches Gemüt oder auch nur einigen reinen Sinn für Religion.
Gegen mich zeigte er sich nie entfernt so, wie gegen Herrn Pfarrer Fuhrmann, der ihn jedoch hauptsächlich auch nur auf dem Grund seiner Äußerungen unmittelbar vor und nach der Konfirmation (siehe dessen Vorwort zu Kaspar Hausers Konfirmationsfeier, Seite III) »religiös« nennen konnte. Abgesehen davon, daß er fortwährend eine entschiedene Abneigung vor den Geistlichen im allgemeinen behielt und stets große Freude bezeugte, wenn er denselben durch Herrn Professor Daumers Schriften neue Hiebe versetzt glaubte, so zeigte er bei meinem Unterrichte in der biblischen Geschichte keineswegs das kindliche Gemüt, welches dieselbe meiner mehrjährigen Erfahrung zufolge gerne in dem Sinne hinnimmt, in welchem sie ihm gegeben wird. Kaspar Hauser war gewöhnlich bereit, das Gegenteil herauszusuchen.
Wurde ich veranlaßt, bestimmter auf die göttliche Vorsehung, Gerechtigkeit usw. hinzuweisen, so hatte er häufig eine Menge Einwendungen bereit, die keine Unbekanntschaft mit den Lebensverhältnissen erkennen ließen. Am wenigsten wollte ihm der Satz einleuchten, daß alles Gute belohnt und alles Böse bestraft werde. Er meinte, daß eben doch so gar viele Menschen unverdienter Weise in glücklichen, dagegen andere ohne ihr Verschulden in elenden Verhältnissen lebten; er könne nicht begreifen, wie und warum dies erst in der andern Welt ausgeglichen werden sollte usw. Zuletzt berief er sich immer gerne auf sein bekanntes, trauriges Schicksal, und man mußte ihm in Berücksichtigung desselben, welches man ja nicht wohl merklich bezweifeln durfte, vieles zugute halten. Seine Einwürfe durfte man, nach leider beliebten Erziehungsgrundsätzen unserer Zeit, nur als Zeichen eines ungetrübten Verstandes nehmen, wenn man nicht für einen finstern Kopf erklärt werden wollte.
Von seinen Äußerungen, die er kurze Zeit vor seiner Konfirmation noch außer meinem Hause tat, läßt sich ebenfalls auf keinen religiösen Sinn schließen. »Jetzt komme ich bei Herrn Pfarrer Fuhrmann bald zu einem Punkt, da will ich ihn doch in Verlegenheit bringen. Wir kommen nächstens zu der Lehre von der Dreieinigkeit, und dabei will ich ihn schon dran kriegen oder aufzuraten geben; diesmal wird er mit meinen Einwendungen nicht so leicht fertig werden können wie sonst,« – so äußerte er sich fast wörtlich gegen andere im Beisein meiner Frau, die mich damals sogleich davon in Kenntnis setzte. Ich wollte darin (wie heute noch) nicht gerne mehr als den eingebildeten und anmaßenden Jungen erblicken, welcher eben nichts weniger als religiösen Sinn hatte. [Fußnote]
Nach der Zeit seiner Konfirmation fragte er schon einige Wochen und Monate vorher ohne Zweifel darum sehr fleißig, weil er Hoffnung hatte, nach derselben auf dem Appellationsgerichte ein kleines Diurnium zu bekommen, welches man, wie er glaubte, ihm ganz zur beliebigen Verfügung überla**en würde.
Aus den häufigen Äußerungen: »Wenn ich nur konfirmiert wäre, dann könnte ich doch verpflichtet werden, und dann bekäme ich für mein Schreiben etwas«, dürfte dies wohl schon zu entnehmen sein, wenn man sonst auch keine Ursache hätte, es zu glauben.
Den Religionsunterricht, welcher ihm nach der Konfirmation noch bestimmt wurde, nahm er nur äußerst ungern. Daß er es nicht einsähe, wozu er jetzt noch Religionsunterricht nehmen solle, sprach er sowohl gegen Herrn Oberleutnant Hickel als gegen mich aus.
Den Gottesdienst besuchte er ebenfalls nur, um einer nicht wohl auszuweichenden lästigen Anordnung Folge zu leisten. Seinen Platz in der Kirche wählte er gewöhnlich so, daß er jeden Augenblick ungeniert aus derselben weggehen konnte. Selten hörte er die ganze Predigt mit an. Bis zum Schlusse des Gottesdienstes blieb er fast nie. Wenn er nur einigen Grund hatte, versäumte er ihn ganz, und in den letzten 4 bis 5 Wochen besuchte er gar keinen Gottesdienst mehr, indem er jedesmal sagte, er müsse den heutigen Vormittag im Lateinischen arbeiten, wenn er seine Aufgabe fertig bringen solle. [Fußnote]
m
Kaspar Hauser erschien mir stets als ein Mensch von höchst oberflächlichem Gefühl bei einem sogenannten gesunden Hausverstande.
Der Verstand Kaspar Hausers muß von einem doppelten Gesichtspunkte aus beurteilt werden.
Nach seinen Leistungen in dem sogenannten Schulwissen erscheint er fast unter mittelmäßig. Hier ist jedoch nicht zu übersehen, daß er für solches in der Tat nur ganz wenig Sinn hatte. Seine Worte, zufolge deren er oft einen wahren Heißhunger nach dem Lernen zu erkennen gab, können auch hier nichts entscheiden. [Fußnote] Nach seiner Routine in dem umgänglichen Leben und öftern Beurteilung desselben war er im eigentlichen Sinne des Wortes gescheit, d.h. er wußte hier in der Regel schnell und scharf zu scheiden und sein Verhalten sehr geschickt darnach einzurichten. In dieser Hinsicht geht er wohl vielen Gebildeten, sicher aber allen sogenannten Stubengelehrten voraus.
Tiefe und Wärme vermißte ich in seinem Gefühle gänzlich; dagegen schien es mir in der Regel erkünstelt. In seiner ungewöhnlichen Freundlichkeit und Gefälligkeit im leichtern sozialen Leben wird man wohl diese Eigenschaften eines Gefühles nicht finden wollen. Von einem wahren Ehrgefühle traf ich bei ihm auch keine Spur an, wohl aber sah ich ihn dem falschen Ehrgefühl täglich huldigen.
Ob sich mit diesen und ähnlichen Haupteigenschaften eines Geistes und Gemütes die der Täuschung und des Betruges mehr oder weniger leicht vereinigen mögen, muß ich weiterer Einsicht überla**en.
n.
Hauser war ohne innere Stetigkeit und hatte bei keiner Beschäftigung, die einige Mühe erforderte, die nötige Ausdauer; dabei besaß er einen außerordentlichen Hang, besser und mehr zu scheinen, als er wirklich war, und konnte so in keiner Lage lange zufrieden sein.
Über seinen Mangel an innerer Stetigkeit und Ausdauer bei ernsten Beschäftigungen habe ich mich schon in meinem Urteile vom Juli vorigen Jahres erschöpfend ausgesprochen. [Fußnote] Dort habe ich auch unter geziemenden Hoffnungen von Herzen gewünscht, daß sein großer Fleiß und Eifer beim und zum Lateinischen nur von Dauer sein möge. Meine Besorgnis ging nur zu bald in Erfüllung. Bis in die Mitte Augusts lag ihm das Lateinische schon wieder so wenig auf, daß er ohne seine erklärte Lieblingsbeschäftigung mehrere Wochen in Nürnberg sein konnte und noch länger daselbst bleiben wollte. Einige Tage nach seiner Zurückkunft, im September, fing er, durch mich besonders dazu aufgemuntert, zwar an, das Lateinische wieder mit dem vorigen Eifer zu betreiben, und hielt darin aus bis Ende Novembers. [Fußnote] Von jetzt, und hauptsächlich vom 5. Dezember an, behandelte er diesen Gegenstand so gleichgültig wie jeden andern. Während er sonst beim Lehrer fast jeden Fehler zu entschuldigen suchte und ihn nicht gerne als solchen gelten la**en wollte, war es ihm jetzt ziemlich gleichviel, ob er mehr oder weniger Fehler, ob er gut oder schlecht gearbeitet hatte. Er fragte seinen Lehrer im Lateinischen, Herrn Kandidaten Gebert, auch über keine ihm vorgekommene Schwierigkeiten mehr, was er sonst so häufig getan hatte, und machte die leichtesten Übungen äußerst fehlerhaft. Diese Erscheinung war natürlich auch Herrn Gebert aufgefallen.
Sein Hang, besser zu scheinen und mehr zu gelten, zeigte sich bis zu den unbedeutendsten Dingen herab.
Auf ein Billett, ein Briefchen, ein gemaltes Blättchen, wie auf andere Produkte seiner Geschicklichkeit hatte er nach seinen Reden oft kaum die Hälfte Zeit verwendet, als er wirklich dazu gebraucht hatte, und hatte dabei den Zweck, entweder das Unvollkommene zu entschuldigen oder das Gelungene um so mehr bewundern zu la**en. Wenn er sich dagegen von einer Arbeit für die Zukunft gerne los machen wollte, so hatte er auch wieder zur äußerst mangelhaften Vollendung derselben stets noch einmal so viel [Fußnote] Zeit nötig gehabt, als er wirklich dazu verwendet hatte.
Sah sich Kaspar Hauser aber einmal erkannt, und seine unrühmlichen Eigenschaften nicht mehr entschuldigt (sic!), so konnte man an ihm deutlich merken, wie unbehaglich er sich fühlte. Er war dann mit seiner Lage gänzlich unzufrieden und wünschte sie natürlich um jeden Preis geändert.
Als Beleg hiezu folgendes:
In bezug auf Herrn Oberleutnant Hickel, welcher ihn vom Anfange an in der Regel auf den Eindruck seiner Handlungsweise bei dem Herrn Grafen, der sie am Ende erfahren müsse, ernstlich hinzuweisen pflegte, äußerte er gegen meine Frau einigemale und darauf auch gegen mich: »Der Hickel muß mir aus dem Spiel kommen, es mag gehen, wie es will. Ich weiß nicht, ob ich warten soll, bis der Herr Graf kommt, oder nicht. Lieber will ich bloß Wa**ersuppen essen, als immer hören: Laß nur dies den Grafen erfahren, dann magst du sehen, was geschieht. Und so tut er bei den unwichtigsten Dingen immer, als wenn er die größten Geheimnisse hätte. Es macht's doch der Herr Präsident nicht so.«
Wäre er von mir deshalb nicht ernstlich zurechtgewiesen und auf das Unheilvolle seines diesfallsigen Beginnens aufmerksam gemacht worden, so hätte er wahrlich mit Dreistigkeit und ohne Verzug auf sein Ziel losgesteuert. Einmal (siehe oben unter den Auftritt mit Herrn Präsidenten v. Feuerbach) versuchte er es dennoch, entschieden aufzutreten und seinen Plan durchzusetzen.
Ich muß übrigens um der Wahrheit willen hier gestehen, daß ich selber glaubte, Kaspar Hauser werde oft am unrechten Orte, d. h. da, wo er es weniger verdiente, empfindlich getadelt, und es werde dabei nicht immer mit der gehörigen Klugheit verfahren; darum glaubte ich, ihm auch seine diesfallsigen Heraustretungen nicht so ganz hoch anrechnen zu dürfen. Das ist jedoch nur meine Ansicht, die ich als Erzieher habe, und sie mag dem eigentlichen Polizeimann wie dem Richter recht wohl als irrig erscheinen können.
Bei Herrn Professor Daumer gefiel es unserm Kaspar Hauser von da an nicht mehr, wo er sich als unwahr erkannt und seinen auffallenden Lügen gebührend begegnen sah. Erzieher und Zögling wünschten einander los zu haben, und der bekannte Mordversuch führte zum Ziel.
Im Biberbachschen Hause sagte ihm seine Lage gar nicht lange zu. Diese ebenso gebildete als gemütliche Familie sah mit unbefangenen Augen, ohne Brille der Gelehrsamkeit, war nicht geneigt, ein X für ein Q zu nehmen, und kam daher recht bald auf seine Haupt[un]tugenden. Um von ihr wegzukommen, nahm er seine Zuflucht zu den offenbarsten, unverschämtesten Lügen. Der [Fußnote] zufällige Pistolenschuß begünstigte sein Streben. Das Haus des Herrn Baron v. Tucher verließ er gleichfalls auf die undankbarste Weise, als er seine unrühmlichen Eigenschaften daselbst größtenteils erkannt und daher nicht mehr in so hohem Grade für sich eingenommen sah.
Hier in Ansbach konnte er seine Lage so lange nicht bedenklich finden, als er sich in Herrn Staatsrat v. Feuerbach stets [Fußnote] seinen Hauptvertreter denken durfte, wie er denselben in Nürnberg an Herrn Bürgermeister Binder hatte.
Ob man nach dem Tode des Herrn Staatsrats v. Feuerbach alles aufbot, um dem Verla**enen den Verlust so wenig als möglich fühlen zu la**en, so mußte ihm doch derselbe je länger je fühlbarer werden. [Fußnote]
An die Stelle des Herrn Staatsrats ist bei Hauser in gewisser Beziehung Herr Hofrat Hofmann getreten. Dieser hatte schon einige Zeit vor dem Tode des Herrn Staatsrats v. Feuerbach für Hausers Existenzsicherung die Feder ergriffen und ließ sich nun die Sache, welche er bei seiner ausgezeichneten Humanität als Sache der Menschlichkeit behandelte, womöglich noch mehr angelegen sein. Um durch Selbstbeobachtung seinen Klienten näher kennen zu lernen und auf seine Moralität einigen Einfluß zu erlangen, ließ sich Herr Hofrat öfters von ihm besuchen.
Nach dreivierteljährlicher Bekanntschaft mit ihm versicherte mir Herr Hofrat am Sonntage, nicht volle 8 Tage vor Hausers unglücklicher Verwundung, noch, daß dieser ihm bis jetzt durchaus keine Achtung habe abgewinnen können, daß er gegen ihn insbesondere den Heuchler und Schmeichler spiele, ihn deshalb immer etwas von sich entfernt halten müsse, und daß ich mit meinen moralischen Lektionen, deren ich einige berührt hatte, ja fortfahren solle. Auch an diesem Tage kam Hauser noch, und zwar fast unmittelbar, nachdem ich weg war, zu Herrn Hofrat. Konnte dem schlauen Hauser bisher schon, wovon ich vollkommen überzeugt bin, der kontrollierende Blick und die gemessene Haltung des Herrn Hofrats nicht entgehen, so kam er gewiß heute um so mißtrauischer, als ihm von demselben erst einige Tage vorher bei Aushändigung eines Briefes von Herrn Staatsrat v. Klüber in Frankfurt einige seiner Fehler deutlich vorgeführt worden waren. Nach der Stimmung, in welcher ich Herrn Hofrat in bezug auf Hauser verla**en habe, hat er sich demselben diesmal ganz zuverlässig nicht besonders genähert [Fußnote] Es ist außer Zweifel, daß Kaspar Hauser seine hiesige Lage in Hinsicht auf Beschäftigung und Umgebung durchaus nicht mehr zusagte.
Seine Beschäftigungen waren ihm bereits sämtlich lästig geworden. Auf dem Appellationsgerichte schrieb er nur noch äußerst ungerne. Er hatte das nach seiner Konfirmation erwartete Taggeld bis jetzt nicht bekommen und hörte von einem solchen schon lange nichts mehr. Die Schreiberei selbst, für welche er sich früher veranlaßt, ich möchte sagen, notgedrungen fand, seine entschiedene Neigung zu erklären, gefiel ihm keineswegs.
Nachdem im vorigen Jahre einer seiner Bekannten (Herr Baron von Seckendorf) zum hiesigen Chevauxlegers-Regiment als Kadett gekommen war, äußerte er gegen mich folgendes: »Ich weiß nicht, die Schreiberei ist auch gar so langweilig. Wenn ich nur wüßte, ich ginge am Ende auch noch zum Militär. Die Kadetten haben es nicht so übel, und nach und nach kommen sie doch weiter.« (Hier führte er einige Beispiele an.) Von mir auf die gegenwärtigen geringen Aussichten beim Militär und dessen weniger freundliche Seite, wie auch darauf aufmerksam gemacht, daß man es in unseren Tagen ohne solidere Kenntnisse und bestandenes Examen nicht so leicht mehr zum Offizier bringen könne usw., wurde er gänzlich stille.
Mit Ehren sich von der Schreiberei wieder loszumachen, mußte ihm aber um so schwerer erscheinen, je mehr Lust und Neigung zu derselben er anfangs durch Worte an den Tag gelegt hatte. Es scheint, als hätte er seine Entla**ung dadurch zu bewirken gesucht, daß er seit längerer Zeit schon sichtbare Rückschritte zeigte. Einen Beweis von Unlust zu dieser Beschäftigung gibt gewiß auch der Umstand, daß er schon lange her wöchentlich viermal um 11 Uhr mittags aus der Kanzlei unter dem Vorwande wegging, eine Unterrichtsstunde zu haben, während er zu dieser Zeit nie einen Unterricht empfing.
Des Unterrichts und der Übungen in den gewöhnlichen Schulgegenständen war er längst satt. Ich konnte ihn zuletzt nicht wohl mehr zur Fertigung eines Briefchens bewegen. Neben dem Lateinischen ward ihm auch jede Aufgabe für meinen Unterricht zur Last und wurde von ihm in jeder Beziehung nachlässig und oberflächlich behandelt. Letzteres wiesen die Hefte nach.
In Berücksichtigung seines Eifers zum Lateinischen mußte ich ihn möglichst entschuldigen, und es blieb mir am Ende nichts anderes übrig, als ihm äußerst wenig aufzugeben und ihm das wenige noch so leicht als möglich zu machen. Am ersten schrieb er noch eine Erzählung nach und darum ließ ich ihn in der letzten Zeit wöchentlich eine solche selbst wählen und nachbilden. War sie etwas länger, so durfte er sie in zwei Abteilungen für zwei Wochen behandeln. Aber auch so war's ihm noch unbequem. Häufig hatte er seine Arbeit nicht zur bestimmten Zeit fertig und wenn sie fertig war, so mußte ich ihn wegen gleichgültiger und oberflächlicher Behandlung des ganzen in der Regel tadeln. Gar nicht so gleichgültig wie den gewöhnlichen Tadel nahm er in den letzten Tagen Novembers die Erklärung hin, daß ich nun eben jedesmal in seine Schrift bemerken müsse, ob er etwas oder nichts und wie er gearbeitet habe. Ich wolle dadurch Herrn Graf, wenn er hierher komme, in den Stand setzen, selbst sein Urteil über ihn fällen zu können. Es tue in die Länge nicht mehr gut, bei ihm alles zu beschönigen. Das Schlechte – mittelmäßig, das Mittelmäßige – gut, und das Gute – sehr gut und vorzüglich zu nennen. Man bringe dadurch am Ende sich und ihn in Verlegenheiten. Von nun an könne er sich darauf verla**en, daß ich mein Urteil nicht mehr durch den seltenen Kaspar Hauser bestechen und die gewohnten unstichhaltigen und unverantwortlichen Rücksichten eintreten la**e. [Fußnote] ... Über diese ernstliche Erklärung war er in hohem Grade betroffen, arbeitete aber nachher fast noch nachlässiger als vorher. In seinem letzten Aufsatze, den er am Abend vor seiner unglücklichen Verwundung verfertigte, kommen einige Fehler vor, die er ein Jahr früher nicht wohl gemacht haben würde.
Es ist psychologisch gewiß auch nicht unwichtig, daß er das Aufsätzchen über das biblische Thema: »Tue deinem Feinde Gutes, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln,« – mit dem Satze schließt: »Hat er dir an deinem Körper geschadet, so tue ihm Gutes dafür.« Er hat dieses Aufsätzchen nach einem ihm zweimal vorgelesenen Muster aus »Dittmars Weizenkörnern« bearbeitet, in welchem alle Gedanken seiner Arbeit vorkommen, bis auf den letzten. Auch der Umstand ist nicht zu übersehen, daß er eigentlich schon geschlossen hatte, und den letzten Satz – mit einer neuen Zeile beginnend – allein hinstellte. Es möchten diese Umstände wenigstens davon zeugen, daß er tags vorher mit dem Gedanken einer Körperverletzung umging.
Diese leise Andeutung hatte vielleicht, wahrscheinlich in Verbindung mit einigen anderen Anzeichen, wie früher seine Angaben bei Herrn Professor Daumer, im günstigen Falle wieder zu den Ahnungen des Mordversuchs gerechnet werden sollen. [Fußnote]
Über seine Ausdauer beim Lateinischen habe ich mich oben schon ausgesprochen; davon hier nur weniges, woraus etwa der Grund des ihm Lästigen ersehen werden möge. So lange er sich in der einfachen Formenlehre bewegte, die ihm aus seinem genossenen Unterricht in Nürnberg noch ziemlich bekannt war, so lange machte ihm das Lateinische diesmal um so mehr Vergnügen, als er mir, dem mit seinem sonstigen Fleiße Unzufriedenen, gerne glauben machen wollte, daß er bei einem weniger alltäglichen Gegenstande, zu dem er Luft habe, schon fleißig und eifrig sein könne. Als er aber über die Dinge hinausgekommen, mit denen er noch mehr vertraut war, und als er sah, daß er ohne Anstrengung nicht und mit solcher nur langsam weiter fortzuschreiten vermöge, da wurde ihm auch das Lateinische, gegen welches er in den letzten 14 Tagen seine volle Gleichgültigkeit bewies, von Tag zu Tag lästiger. Auch diese Wahrnehmung an sich wieder machen zu la**en, mußte ihn jedenfalls in hohem Grade genieren. Und von dem Lateinischen so bald wieder befreit zu werden, dazu hatte er hier gar keine Aussicht.
Es ist darum bei diesen und andern Verhältnissen auch nicht auffallend, daß er sich während seiner letzten Anwesenheit in Nürnberg so ganz innig an Frau von Kannawurf aus Wien anschloß, wenn man weiß, daß diese Dame (was auch aus ihren Briefen ganz deutlich hervorging) dem äußerst interessanten Kaspar Hauser viele Hoffnung machte, ihn mit der Erlaubnis seines Pflegevaters bald auf längere Zeit bei sich in Wien (wo man sich für ihn ganz ungewöhnlich interessiere) sehen zu dürfen. Dieser Punkt und die gegebene Zusicherung, seinerseits das nötige einleiten zu wollen, mag auch die Ursache sein, warum er weder mir [mich] noch meine[r] Frau, was er noch in keinem andern Falle getan hatte, die von dieser Dame erhaltenen Briefe selbst lesen ließ, dieselben immer sogleich in seiner Schreibkommode verschloß und sie vor dem Attentat mit zweien von einer anderen Dame ganz wegschaffte.
Daß Kaspar Hauser bereits auch seine ganze engere Umgebung zu vertauschen wünschte, läßt sich ebenfalls nicht wohl bezweifeln.
Herrn Hofrat Hofmann fand er für sich offenbar zu ernst und zu redlich. Dessen öfteren moralischen Ausbeugungen, in denen er wohl nicht selten die an ihm wahrgenommenen Untugenden sich vorgehalten glaubte, konnten ihm ebenso wenig gefallen als er demselben für die Anordnung dankte, Religionsunterricht fortnehmen zu müssen.
Von Herrn Oberleutnant Hickel sah er sich ohnehin nicht gerne abhängig und am allerwenigsten gerne bei dem auf der Hieherreise begriffenen Grafen vertreten.
Mich, auf dessen schonendes Urteil gegen Herrn Grafen er noch immer Ursache hatte zu rechnen, [Fußnote] fand er in der letzten Zeit weniger geneigt, seine tadelnswerten Eigenschaften zu entschuldigen, und ich darf glauben, daß er mein rücksichtsloseres Urteil hauptsächlich fürchtete.
Aus allem konnte er entnehmen, daß seine unrühmlichen Eigenschaften hier immer mehr erkannt werden und immer weniger Entschuldigung finden; und hätte er nicht noch in den wenigen Häusern, an denen ihm alles lag, für den gegolten, für welchen er stets gelten wollte, so wäre ihm sicher seine Lage dahier schon länger unerträglich gewesen. Er durfte jetzt nur noch befürchten müssen, was sich unten zeigen wird, daß das unbedingte Vertrauen in seine Wahrhaftigkeit auch in jenen Familien bald schwinden möchte, so hatte er volle Ursache, die Veränderung seiner Lage schlechterdings zu bewirken.
Es lag ganz in Hausers Charakter, was auch oben erzählte Tatsachen ziemlich deutlich erkennen la**en, daß er unter bedenklichen Umständen dachte: »Anders muß es werden; es mag nun kommen, wie es will – besser oder schlechter –«; und daß er im letztern Falle selbst den Tod nicht unbeachtet ließ, legte er selbst einige Male durch unzweideutige Äußerungen an den Tag.
Zu einem entscheidenden Schritt war aber jetzt eben die rechte Zeit gekommen. Mit dem nahen Christfeste hatte man auf die Ankunft des Herrn Grafen gerechnet. Über dessen Benehmen war Hauser sehr in Ungewißheit.
Daß der Herr Graf an seiner Aufrichtigkeit zweifelte, wußte er, und dies war ihm keineswegs gleichgültig.
Eine etwaige gleichgültige Behandlung usw. von demselben dürfte vielleicht auch diejenigen gegen ihn mißtrauisch machen, in deren hoher Gunst auch [Fußnote] er sich noch behaglich fühlte,– so mochte er recht füglich denken. Ein Wagestück, bei dem er sich auch auf das Schlimmste gefaßt machen mußte, konnte im glücklichen Falle gerade jetzt doch auch die beste Wirkung tun.
Es konnte die Zweifel des Grafen verscheuchen, sein Mitleid aufs neue rege machen und ihn bewegen, den Unbeschützten doch noch nach England mitzunehmen. Seine Bekannten, die mit den nähern Verhältnissen nicht vertraut waren, erhielt er ohnehin noch lange bei der Meinung, daß er nach England komme, nachdem ihm das Gegenteil schon mit Bestimmtheit angekündigt war. Scham und die Befürchtung, außerdem an Interesse zu verlieren, mochten wohl [Fußnote] auch hier, wie bei so manchen seiner Handlungen, die Motive sein.
Hat Kaspar Hauser das Attentat an sich selbst verübt, so kann ich nach meiner Bekanntschaft mit ihm nicht annehmen, daß er bei der entschiedenen Absicht, seiner bisherigen Lage ein Ende zu machen, mit Ängstlichkeit die Einwirkung auf Herrn Graf Stanhope berechnet, sondern muß vielmehr glauben, daß er ebenso wohl, und vielleicht gar vorzugsweise, den Tod im Auge behalten habe. Angenommen indes, er hätte letzteres weniger gewollt, so war Hauser doch so gescheit, daß ihn ein unbedeutender Stich sogleich verdächtig erscheinen la**en würde und daß es ihm bei einem stärkeren Druck leicht fehlen konnte. Es wäre demnach kaum anders anzunehmen, als daß er beide Fälle im Auge gehabt und seine ganze Einrichtung darauf gemacht hätte. – Gelingt's, – so ist's gut; – und gelingt's nicht, so ist's auch recht; dann habe ich auch dabei nichts verloren. – Ehe ich so fortlebe, will ich lieber sterben –: Dies sind Gedanken, welche der Gesinnung Kaspar Hausers gar nicht ferne lagen.
o.
Bemerkens- und beachtenswerte Erscheinungen und Vorfälle an und bei Kaspar Hauser in den letzten 14 Tagen seines Lebens.
Daß er in dieser Zeit ernster und zurückhaltender als gewöhnlich war, oder vielmehr, daß er in derselben eine seiner unfreundlichen und unleidentlichen Perioden hatte, habe ich ganz oben schon bemerkt.
Besonders gewahrte ich an ihm diese Stimmung vom 5. Dezember an.
Nachdem ich schon einige Tage vorher eine ziemliche Gleichgültigkeit auch gegen das Lateinische an ihm bemerkt und er heute da**elbe kaum noch mit einem Worte berührt hatte, fragte ich ihn, (Donnerstag, den 5. Dezember vor. Js.) abends nach Tische, ob er denn seine Übersetzung für morgen schon fertig habe. Hauser erwiderte bei übrigens ernster Stimmung augenblicklich unter scheinbar gezwungener Freundlichkeit: »Ja – schon ganz bin ich damit fertig.« Ich nahm das Buch zur Hand, zeigte ihm, wie groß die Aufgabe sei und fragte ihn, ob er denn wirklich auch so weit übersetzt habe, und er deutete mir dabei mit dem Finger an, daß er wohl noch um ein Absätzchen weiter gekommen sei.
Mir mußte dies jedoch um so unwahrscheinlicher vorkommen, als fragliche Aufgabe ein paar Fälle enthielt, mit denen er für sich allein zuverlässig nicht hätte fertig werden können und bei welchen er sich sonst sicher an mich hätte wenden müssen. Ich fand indes für gut, ihm jetzt im Beisein meiner Frau nichts weiter zu bemerken, sondern ihn ungestört auf sein Zimmer gehen zu la**en. Ungefähr 5 Minuten darauf nahm ich mein »Lateinisches Elementarbuch von Jakobs und Döring« und ging ihm nach. Er hatte, was zu der Zeit gegen seine Ordnung und Gewohnheit war, die Türe schon verschlossen und fragte mich erst, ehe er öffnete, ob ich noch zu ihm herein wolle.
Ich legte ihm dann einen und noch einen Satz vor und ersuchte ihn, mir zu sagen, wie er übersetzt habe. Hauser, kaum vermögend, ein Wort pa**end zu dem andern zu bringen und darüber sichtbar verlegen, äußerte: »Ich habe ja erst präpariert, übersetzen will ich erst jetzt.« Hierauf sah ich ihn bei einem ausdrucksvollen »So« – ruhig an, wünschte ihm gute Nacht und entfernte mich. Ich erwartete nun, daß er bei den Stellen, die ich über seinen Horizont wußte, noch zu mir kommen werde; allein er kam nicht und am andern Tage in der Stunde zeigte sich's, daß er mit denselben durchaus nicht im Reinen war. Er fragte mich von jetzt an überhaupt mit keinem Worte mehr, auch nicht in bezug auf das Lateinische, mit welchem er mich früher, und selbst vor wenigen Tagen noch, fast jede Viertelstunde, wenn ich zu Hause war, in Anspruch genommen hatte. Sowohl meine Frau als ich wollten anfangs in diesem, seinem veränderten Benehmen und Verhalten einen gewissen bübischen Trotz erkennen. Ich fand indes für gut, ihn vorderhand ungestört zu la**en, ihm aber bei der nächsten Gelegenheit meine Meinung darüber zu sagen.
In diesen Tagen, und wenn ich mich nicht irre, war's Freitag, den 6. Dezember, hatte er den oben (S. 78 f.) erwähnten Brief des Herrn Staatsrats v. Klüber erhalten. Er kam damals ziemlich verstimmt von Herrn Hofrat Hofmann zurück und gab mir den erhaltenen Brief hin, ohne über seinen Inhalt auch nur ein Wort zu sagen. Dieser schien ihm nicht ganz zu gefallen und ohne Zweifel aus dem Grunde, weil er, wenngleich sehr schonend, aber eben dennoch vor Eigenschaften warnte, welche nur gemeinen Seelen eigen seien, unserm Kaspar Hauser aber nicht eben fremd waren.
Hauser wußte, daß im Juli von mir ein ausführlicher Bericht über ihn durch Herrn Hofrat Hofmann zunächst an Herrn Staatsrat v. Klüber und von diesem an den Herrn Grafen befördert worden sei, und war in bezug auf denselben um so mißtrauischer, als ihm einige Wochen vorher Herr Oberleutnant Hickel gesagt hatte: ich hätte meinen Bericht an den Herrn Grafen erst ihn (Herrn Oberleutnant) sehen und einiges darin recht füglich unberührt la**en sollen.
Daß seine nicht eben empfehlenden Eigenschaften, wenigstens teilweise, erstgenannten Herren bekannt seien, durfte und konnte er diesem und anderem nach wohl schließen. Und wer kein reines Gewissen hat, sieht ja ohnehin überall leicht Gespenster.
Am Montag darauf, den 9. Dezember, fügte er sich in meiner Unterrichtsstunde von 5 bis 6 Uhr abends noch eine sehr ernste Rüge zu, welche ganz getreu und umständlich zu erzählen ich für durchaus notwendig erachte.
Ich gab ihm zu Anfang der Stunde ein Sprachheft zurück mit dem Bemerken, daß eben hier schon wieder ein Blatt herausgeschnitten wäre, obgleich ich ihn deshalb schon so oft getadelt und es ihm so bestimmt untersagt hätte. »Ja, ich hatte auf das Blatt einen Flecken gebracht, und den wollte ich nicht in der Schrift haben«, entgegnete er mir augenblicklich. Ich erwiderte (es wird am besten sein, wenn ich von nun an das ganze Wechselgespräch so getreu als möglich gebe): »Sie werden mir wohl nicht zumuten, daß ich Ihnen dies unbedingt glauben soll?«
Hauser: Warum wollen Sie es denn nicht glauben? Es ist gewiß wahr.
Ich: Sie kennen doch das Sprichwort: »Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht«, und Sie, lieber Freund, lügen wohl täglich öfter als einmal.
Hauser: Ich habe seitdem nicht mehr gelogen, seitdem ich Ihnen damals versprochen habe, nie mehr lügen zu wollen. Ich: Sie haben seitdem nicht mehr gelogen? Dies getrauen Sie sich mir wirklich ins Gesicht zu sagen?
Häuser: Nein, ich habe seitdem nicht mehr gelogen! Sagen Sie mir nur, wann! Sie können mir nichts beweisen.
Ich: Lieber Hauser! – Sie haben es in der Dreistigkeit weit gebracht. Indem Sie dies behaupten, sagen Sie mir ja sogleich wieder die frechste Lüge ins Gesicht. Glauben Sie vielleicht, weil ich Ihnen seit geraumer Zeit keine Lüge mehr berede, darum merke ich es nicht, wenn Sie lügen? In diesem Falle irren Sie sehr. Sie sollten mich eigentlich besser kennen gelernt haben. Indes ist es Ihnen wohl zu verzeihen, wenn Sie in dieser Hinsicht dreist geworden sind, da Sie in den verehrlichen und hochverehrlichen Zirkeln, wo sich das große interessante Kind nur stets als die gutmütigste Einfalt zeigt, jedes Ihrer auch noch so unwahren Worte als lautere Wahrheit hinnehmen sehen. Wo man Sie näher kennt, ist es übrigens anders. Mir und vielen andern können Sie nicht mehr weiß machen, was schwarz ist. [Fußnote] Wenn ich Ihre häufigen Unwahrheiten nicht mehr berede, so bestimmt mich dazu allein die nach und nach gewonnene Überzeugung, daß ich Sie doch nicht von Ihrer Hauptkrankheit zu heilen imstande bin. Warum soll ich mich dann immer vergeblich ärgern? Und ärgern muß man sich ja jedesmal, so oft man Sie auf eine Unwahrheit aufmerksam macht, denn Sie sind, was sonst nur ganz niedrige Charaktere tun, [Fußnote] so lange fort nein und immer nein zu sagen gewohnt, bis man Sie mit Mühe so weit in die Enge getrieben hat, daß Sie nicht mehr nein sagen können, und dann sprechen Sie dennoch auch kein Ja aus; das Warum kann man sich allenfalls denken.
Hauser (in ungehaltenem Tone): Ich kann doch nicht Ja sagen, wenn's nicht so ist. Beweisen Sie mir nur, daß ich seit damals noch einmal gelogen habe!
Ich: O Häuser, Sie glauben nicht, wie sehr es mich schmerzt. Sie mir gegenüber so zu sehen, wie wehe es mir tut, Sie immer mehr von der unvorteilhaftesten Seite kennen zu lernen. Weil Sie indes durchaus Beweise wollen, so sollen Sie denn welche haben.
Ich bin aber wahrlich verlegen, wo ich anfangen soll. – Doch – ich will der Zeit folgen.
Haben Sie nicht gleich einige Tage wieder nach Ihrem damals gegebenen Versprechen das Licht im Leuchter herunterbrennen la**en, so daß dadurch die Handhebe heruntergeschmolzen ist, der Magd aber weisgemacht, die Handhebe sei Ihnen beim Anfa**en weggebrochen und gegen meine Frau standhaft behauptet, Sie haben kein Licht hinunterbrennen la**en?
Häuser: Es war auch so, wie ich gesagt habe.
Ich: Meinen Sie denn, daß man sich auf solche Weise von Ihnen hat abspeisen la**en? Wenn ich Sie aus Gründen gleich nicht selbst zur Rede stellen mochte, so dürfen Sie doch glauben, daß ich mich deshalb mit den Meinigen genau benommen habe. [Fußnote] Wo war denn das ganze Licht hingekommen, welches Sie abends spät erst erhalten hatten? Wie kam es denn, daß der Leuchter äußerlich durchaus rötlich und bläulich geflammt und inwendig ganz schwarzgrau gebrannt war? Das sich in der Schale unten gesammelte Unschlitt hatten Sie wohl recht sorgfältig herausgenommen, es zum Teil sogar mit dem Messer abgekratzt, allein etwas hatten Sie doch zu tun vergessen. Es war nämlich deutlich zu sehen, wie weit der Unschlittguß in der Schale heraufgereicht hatte. Diese Spur, d. h. diesen Rand, hätten Sie füglich verwischen sollen.
Häuser: Da will ich gleich sterben, wenn mir nicht die Handhebe des Leuchters in der Hand geblieben ist.
Ich: Ja – das bezweifle ich keinen Augenblick. Sie war eben von der Hitze soweit abgelöst, daß sie durch die geringste Berührung herabfallen mußte.
Übrigens können Sie versichert sein, daß ich diesen Vorfall, wie so manch andern, mit allem Fleiße aufgezeichnet habe, um nötigenfalls vollständige Rechenschaft über Sie geben zu können.
Hauser (sichtbar überrascht und betroffen): Aber Herr Meyer, von damals war die Handhebe ganz gewiß nicht weggeschmolzen; es müßte schon von früher hergerührt haben.
Ich: Nun sehen Sie, jetzt gestehen Sie bei dieser Gelegenheit doch zu, daß Ihnen das Licht früher hinuntergebrannt ist. Warum haben Sie es denn aber stets festweg geleugnet?
Hauser: (Keine Antwort).
Ich: Wie oft sagte ich Ihnen nicht schon, wenn Sie gefehlt hatten –, Sie sollten es nur zugestehen; man würde Ihnen dann noch einmal so gerne verzeihen. Aber waren Sie denn je einmal geneigt, meinen wohlmeinenden Rat zu befolgen? Sie sind, mein lieber Hauser, dem Laster der Lüge und der Verstellung in solchem Grade verfallen, daß Sie von demselben förmlich beherrscht werden, daß Sie nicht mehr bei der Wahrheit stehen bleiben können, selbst wenn Sie es tun wollen. Auch in den unbedeutendsten Fällen, wo gar nichts davon abhängt, ob es so oder anders ist, können Sie nicht die Wahrheit reden. Die Beweise wollte ich Ihnen zu Dutzenden liefern, wenn ich es der Mühe wert fände. Sie wissen dies gar zu gut. Damit Sie Ihr Gedächtnis nicht anzustrengen brauchen, will ich in der Nähe bleiben. [Fußnote] Es war doch ganz einerlei, ob Sie am vergangenen Donnerstage abends mit Ihrer Übersetzung schon fertig waren oder ob Sie erst den Abend zur Fertigung derselben verwenden wollten. Da Sie während des Tages außerdem hinlängliche Beschäftigung gefunden hatten, so konnten und sollten Sie ja an jenem Tage, wie sonst auch, Ihre Übersetzung erst abends machen. Ich setzte dies voraus und fragte Sie darüber aus einem gewissen andern Grunde. Warum antworteten Sie nun. Sie wären schon ganz fertig, während Sie noch nicht das geringste an dieser Arbeit getan hatten?
Hauser: Sie haben gefragt, ob ich schon präpariert habe, und damit war ich auch fertig.
Ich: Sie hatten letzthin schon die Frechheit, mir deshalb weiters die Worte zu verdrehen, wobei ich Sie bloß ansah und meine Gedanken machte. Jetzt tun Sie es wieder auf dieselbe Weise. ... Schämen Sie sich vor mir und vor jedem redlichen Menschen, wenn Sie sich nicht mehr vor sich selber schämen können. Bei Ihnen muß man am Ende die Geduld verlieren [Fußnote] ... Ich fragte Sie: »Haben Sie Ihre Übersetzung für morgen schon fertig?« Meine Frau war zugegen und weiß nicht anders, als daß ich Sie wörtlich so fragte.
Hauser: Wenn Sie so gefragt haben, dann habe ich's eben anders verstanden.
Ich: Hören Sie auf mit Ihren bekannten Ausflüchten. ... Von nun an verbitte ich mir alles Ernstes jede dreiste lügenhafte Entgegnung. Ich will nichts mehr darüber hören, weil ich nicht länger geneigt sein kann, einen dumm-dreisten Lügner förmlich zu überführen und mich mit einem solchen zu ärgern, [Fußnote] ... Sie hatten ja auch nicht einmal präpariert. Dies können Sie jemand weismachen, der Sie weniger genau kennt als ich. Ich wollte übrigens, ich hätte Sie gar nie kennen gelernt. Wie viel Unangenehmes hätte ich dann nicht gehabt! Am Ende kann ich durch Sie gar leicht um den Ruf eines redlichen Mannes kommen. Aus übertriebener Rücksicht für Ihre Zukunft habe ich stets und anfangs besonders besser über Sie berichtet, als ich es zu verantworten imstande bin. Denken Sie sich, in welch große Verlegenheit ich wegen Ihrer schon in den nächsten Wochen fast kommen muß. Wenn spätestens bis zum Neujahr, wie wir hoffen, der Herr Graf kommt, und ich von ihm auf mein Gewissen über Sie gefragt werde, kann ich dann wohl als ehrlicher Mann die Wahrheit verschweigen? Oder wollen Sie mir zumuten, daß ich einen Lügner machen soll? Reden Sie selbst! Wie aber, wenn ich mein Urteil dem Herrn Grafen gegenüber nicht mehr so sehr mäßigen darf? – Daß der Herr Graf ohnehin schon lange an Ihrer Aufrichtigkeit zweifelt, haben Sie ja nicht allein durch Herrn Oberleutnant Hickel mündlich, sondern von anderer Seite her sogar schriftlich erfahren. Wenn Sie sich nicht bald durchaus ändern, bringen Sie nicht nur andere, sondern sich selbst wohl noch in die größte Verlegenheit. Vermeiden Sie doch das ums Himmelswillen! Vor allem müssen Sie künftig das genauer befolgen, [Fußnote] was Ihnen diejenigen sagen, welche es ernster mit Ihrem eigentlichen Wohle meinen. Erhaltene Weisungen von Ihren Lehrern dürfen Sie nicht nur nach Belieben behandeln. Sie sind zum Beispiel (um wieder auf die Veranla**ung unserer heutigen ersten Unterhaltung zurückzukommen) von mir schon so oft angewiesen worden, unter keinem Vorwande mehr ein Blatt aus einer Schrift herauszuschneiden. Wie oft sagte ich Ihnen nicht schon. Sie sollten sich, wie jeder ordentliche Mensch, immer ein vollständiges Konzept machen und dann könnten Sie Ihre Arbeiten in die Reinschrift bringen, ohne Ursache zum Herausschneiden der Blätter zu bekommen. Es nutzte bei Ihnen aber alles Reden nichts. Früher wollte mich Ihr Nichtbefolgen meiner Vorschriften öfters beleidigen, weil ich glaubte, Mangel an Achtung gegen mich darin erkennen zu müssen. Allein seitdem ich sehe, daß Sie es dem Lateinischlehrer noch auffallender machen, daß Sie aus manchem Hefte zum Lateinischen mehr als den dritten Teil der Blätter herausnehmen, jedesmal wieder im Scheller aufschlagen, wenn er Ihnen stets richtig sagt, Sie verlören dabei zu viel Zeit, was Sie suchen wollten, fänden Sie leichter und sicherer im Anhang von Doering usw. – seitdem bin ich in dieser Hinsicht vollkommen beruhigt. Ich überzeugte mich mit der Zeit immer mehr, daß Sie bei Ihrem Eigensinne, Ihrer Lügenhaftigkeit und andern Untugenden vorzüglich nur dem Scheine leben, das heißt, stets mehr und besser sein wollen, als Sie wirklich sind. Daher immer das ängstliche Wegräumen dessen, was von Ihren Fehlern und Schwächen zeugen möchte; daher so manch andere Erscheinungen. – In diesen Tagen beobachten Sie auch wieder ein Benehmen, das vollen Tadel verdient. Wozu wieder das zurückhaltende, mißtrauische, trotzige und daher beleidigende Wesen gegen diejenigen, die nur stets Ihr Bestes im Auge haben und es wahrhaft gut mit Ihnen meinen? Sie können dadurch, was Sie freilich recht sehr vermeiden sollten, nur von sich abwenden. Ändern Sie sich darum in vieler Hinsicht um Ihrer selbst willen. Ich rate es Ihnen freundschaftlich und bitte Sie recht dringend darum. Der Unwahrheit müssen Sie ein für allemal gänzlich entsagen können, wenn Sie am Ende nicht allen Glauben und alle Achtung verlieren wollen. Den festen Vorsatz, weder im Kleinen noch im Großen unwahr zu sein, müssen Sie strenge durchführen. Außerdem, daß Sie dann immer mehr an innerem Werte zunehmen, werden Sie auch immer mehr an wahrer äußerer Achtung gewinnen ... Glauben Sie ja, daß Sie allenthalben so ziemlich durchschaut weiden. Es sind nur wenige Häuser, in denen Sie noch für den aufrichtigen, gutmütigen und liebenswürdigen Kaspar gelten. Die meisten, die Sie bis jetzt haben kennen lernen, sehen nicht nur ein, daß Sie eine alltägliche Einbildung und einen gemeinen Hochmut haben, stets gleichgültig und undankbar gegen weniger Angesehene und Vornehme sind, sobald Sie bei Angeseheneren und Vornehmeren Beachtung und Zutritt finden, sondern Sie haben auch bemerkt, daß Sie es mit der Wahrheit durchaus nicht so genau nehmen. Sie dürfen nur in jenen Häusern, auf welche Sie sich bisher so viel zugute tun, auch noch erkannt werden, und es ist um Ihre ganze Achtung geschehen; es wird Sie dann niemand mehr um Ihre Auszeichnung beneiden dürfen. Fangen Sie Ihre Besserung besonders damit an, daß Sie auch im Kleinsten keine Unwahrheit mehr sagen. Haben Sie von jemand etwas gehört, und wollen Sie es nachsagen, so müssen Sie nicht andere, wichtigere Personen nennen, als hätten Sie es von denen erfahren. Das, was Sie gelegentlich über Dinge hören, von welchen Sie unmöglich etwas verstehen können, und über welche kein Vernünftiger mit Ihnen eine Unterhaltung pflegen kann, müssen Sie anderwärts nicht so erzählen, als wäre gerade Ihnen darüber Mitteilung gemacht worden. Von den Verständigeren wird deshalb mindestens über Sie gelächelt, häufig aber auch an die Ähnlichkeit erinnert, die Sie in dieser Beziehung wieder mit ganz alltäglichen Menschen gemein haben. Ferner dürfen Sie nicht länger an dem einen Orte den Unabhängigen, und an dem andern das abhängige, folgsame Kind spielen, hier nicht alles besser verstehen und wissen wollen und dort die größte Unerfahrenheit und Bescheidenheit zeigen, dürfen Sie sich nicht länger von einer lächerlichen Eitelkeit und Einbildung verleiten la**en, bei Gelegenheit die gleichgültigsten Dinge, als damit bekannt, auf das bestimmteste zu behaupten, während Sie denselben offenbar nicht die dazu erforderliche, ja oft nicht die geringste Aufmerksamkeit geschenkt hatten. Halten Sie (ich mache Sie noch einmal darauf aufmerksam) ja die Mehrzahl nicht für so leichtgläubig und kurzsichtig und unerfahren. Es gibt wahrlich viele, die Ihre Eigenschaften gar bald los haben. Ich versichere Sie, daß ich Ihnen bei jedem Falle sagen will, wie weit Sie bei der Wahrheit bleiben und wo Sie von dieser abweichen, was in und außer Ihrem Gesichtskreise liegt, was Ihre Aufmerksamkeit fesseln und was dieselbe nicht leicht erregen kann. Um Sie davon zu überzeugen, will ich Ihnen nur noch ein ganz kleines Beispiel vom heutigen Tage anführen. Es war heute am Mittagtische die Rede von Herrn Regierungsrat Fließen. Meine Frau äußerte, wie Sie wissen, daß es diesem guten alten Manne doch recht unangenehm sein müsse, nicht bei den Seinigen in Speyer sein zu können usw. Ich bemerkte, daß Herr Regierungsrat Fließen noch dazu eine sehr große Verwandtschaft im Rheinkreise und, ich weiß nur nicht, wie viele Enkel schon haben solle. Darauf sagten Sie: »Ja, 11 Enkel hat er schon; es war davon die Rede bei Herrn Generalkommissär«, und ich ließ Ihnen dann vernehmen, daß ich wohl von zirka 20 gehört hätte. Sie wiederholten aber Ihre Aussage mit dem Zusatz, daß Sie es gewiß wüßten.
Sehen Sie, lieber Hauser, ich weiß nun die Anzahl der Enkel des Herrn Regierungsrats Fließen nicht bestimmt, aber das weiß ich so ziemlich gewiß, daß Sie dieselben auch nicht wissen und nur so geschwinde eine Zahl in den Mund nehmen, um das Haus des Herrn Generalkommissärs wieder dabei nennen und gleichsam andeuten zu können, wie Sie natürlich mit den Verhältnissen derer genauer bekannt wären, die auch öfters in das Haus des Herrn Generalkommissärs kämen.
Hauser: Daß der Herr Regierungsrat Fließen 11 Enkel hat, weiß ich ganz gewiß; er hat es an der Tafel des Herrn Generalkommissärs selbst erzählt.
Ich: Und ich kann's Ihnen eben doch nicht glauben. So weit ich Sie kenne, ist Ihnen so etwas im allgemeinen viel zu gleichgültig, als daß Sie einem darauf bezüglichen Gespräche Ihre Aufmerksamkeit schenken und sich daraus die bestimmte Zahl merken sollten. Warum la**en Sie nicht auch, wie ich und andere, die eine Sache nur im allgemeinen vernommen haben, die bestimmte Zahl weg? es kommt ja garnichts darauf an!
Hauser: Ich weiß die Zahl daher ganz genau, weil Herr Regierungsrat Fließen 3 Töchter, und von diesen eine 5, die andere 4 und die dritte [Fußnote] 2 Kinder hat.
Ich: Jetzt glaub' ich's Ihnen erst noch weniger (ich gab ihm hier wieder meine Gründe an).
Hauser beharrte fest auf seiner Aussage, und ich – darüber aufs neue die Geduld verlierend – fuhr etwa in folgender Weise fort: »Pfui, schämen Sie sich doch, bei unserer gegenwärtigen Stimmung in der Unwahrheit zu beharren und sogar noch eine auf die andere zu setzen. Es gehört wahrlich ein hoher Grad von Erbärmlichkeit, ich möchte fast sagen Nichtswürdigkeit dazu. An der Sache selbst liegt nun rein gar nichts. Ob der Enkel 11 oder 20 sind, gilt hier ganz gleichviel. Aber in Ihrer fortgesetzten dreisten Behauptung liegt wieder etwas, darin liegt etwas, daß Sie nie einen Fehler auf eigene Rechnung nehmen, daß Sie nie eine Schwäche auf eigene Schuld – auch nicht die kleinste, zugestehen wollen, und daß Sie es dabei stets aufs äußerste ankommen la**en. Dadurch charakterisieren Sie sich aber ganz vollkommen. Wie der Mensch sich im Kleinen zeigt, so ist er in der Regel auch im Großen. Bei Ihnen hat man bisher aber nur immer den Fehler gemacht, daß man sich durch Ihre Unverschämtheit hat irreführen und beruhigen la**en. Man hat aus Schonung für Sie es stets gerne vermieden, durch Fragen bei andern Ihren dumm-dreisten Lügen ganz auf den Grund zu kommen. Wie oft hatte ich nicht schon Ursache gehabt, in dem Hause des Herrn Generalkommissärs mich zu erkundigen und daselbst auf einzelne Ihrer löblichen Eigenschaften aufmerksam zu machen. Allein die Rücksichten für Ihre hiesigen angenehmeren Verhältnisse konnte mich jedesmal davon zurückhalten. Weil Sie aber nun diese Rücksichten wahrlich nicht verdienen, es vielmehr durchaus darauf ankommen la**en, so will ich mir jetzt denn doch einmal die förmliche Gewißheit verschaffen. [Fußnote]
In der ersten freien Stunde, die ich habe, will ich im Hause des Herrn Generalkommissärs fragen, wie viele Enkel Herr Regierungsrat Fließen habe. Erfahre ich die Zahl 11, so werde ich Ihnen gehörige Satisfaktion geben, im andern Falle Sie aber auf eine Weise beschämen, daß Sie an mich denken sollen. –
Hauser fängt an zu weinen und bittet, ich möchte es ihm doch nur immer gleich sagen, wenn ich eine Lüge bei ihm bemerkte.
Am Schlusse meiner Erwiderung, daß ich ihm dies nicht versprechen könnte, daß ich eben nicht zu jeder Stunde aufgelegt wäre, mich mit ihm abzustreiten, daß er bei weitem kein Kind mehr, sondern alt und gescheit genug wäre, um sich selber jeden Augenblick sagen zu können, was recht oder nicht recht sei, – schien er bedeutend in sich gekehrt und sprach kein Wort mehr. – Nun beendigte ich diese Stunde unter der nochmaligen freundlichsten und herzlichsten Ermahnung, daß er sich doch ja von Grund aus bekehren und ein ganz neuer, oder, wie man in der Sprache der Kirche sagt, ein geistig wiedergeborener Mensch werden solle, damit er sich künftig den gnädigen Beifall des allwissenden, heiligen Gottes [Fußnote] die wahre Achtung guter Menschen erwerben und sich in einem besseren Selbstbewußtsein glücklich fühlen möge. –
So gerne ich diesen Vorfall kürzer erzählt hätte, so wenig glaubte ich es im Hinblick auf meinen Eid ohne jede Verrückung des Sinnes tun zu können. Manche Sätze haben hier natürlich eine etwas veränderte Form, wohl auch eine andere Ordnung erhalten, als ihnen im Flusse der mündlichen Rede zuteil geworden waren. Allein mit ängstlicher Gewissenhaftigkeit habe ich auf die getreue und darum weitläufige Wiedergebung des Sinnes gehalten.
Aus ganz sicherer Quelle ließ ich mir nach seiner unglücklichen Verwundung sagen, daß der fraglichen Enkel 18 seien. [Fußnote]
Unmittelbar nach dem erzählten Akt wurde Hauser zum Abendessen gerufen und er schien dabei so unbefangen, als ob nicht das geringste vorgefallen wäre. Ich war darüber um so mehr verwundert, als man ihm sonst eine erlittene ernstliche Begegnung gar wohl anmerken konnte. Meine Frau, der früher nicht leicht ein stattgefundener Eindruck auf ihn entgangen war, fand ihn diesmal durchaus nicht verändert. Er war nicht finsterer, er sprach und aß auch nicht weniger als schon einige Tage her. Nach dem Essen begab er sich sogleich wieder auf sein Zimmer, unterließ es aber von heute an, mir beim Weggehen die Hand zu geben, was er bisher abends immer zu tun gewohnt war.
Ob ich mich gleich die folgenden Tage ihm besonders zu nähern suchte, um ihn wo möglich wieder zutätiger zu machen, und mehr freundlichen Einfluß auf seine moralische Besserung zu erlangen, so behielt er doch sein zurückhaltendes und verschlossenes Wesen bei, ohne es gerade auffallender zu machen, als er es sonst schon einige Male gemacht hatte. Nur hielt er diesmal etwas länger damit an.
Ziemlich auffallend war auch sein Benehmen am Mittagstische Mittwochs, den 11. Dezember.
Ich kam verstimmt von meiner Schule zurück und erzählte, daß ich mich diesen Morgen sehr habe ärgern müssen, daß ich wieder ein betrübendes Beispiel erlebt habe, wie gewissenlose Eltern ihre Kinder im Schlechten schon förmlich unterrichten und unterstützen. [Fußnote]
Es war mir nämlich einige Tage vorher ein Buch von meinem Tische in der Schule weggekommen und infolge meiner getroffenen Maßregeln auf eine schlaue Weise wiedergebracht worden.
Der Schüler (zwischen dem 11. und 12. Jahre), welcher sich der Tat überführt glaubte, gestand sie mir zu in der Meinung, es werde ihm bei einem offenen Geständnisse nichts weiter als ein tüchtiger Verweis von mir zuteil werden. Als er aber merkte, daß ich die Sache dem Herrn Lokalinspektor überla**en wolle, widerrief er sein Geständnis unter dem Vorwande, er habe vorhin nur aus Furcht vor der Strafe gesagt, daß er das Buch gehabt habe, es sei dies aber nicht der Fall, er sei unschuldig usw. Gegen den inzwischen gekommenen Herrn Lokalinspektor behauptete er da**elbe. Auf meine Einleitung hörte man nun seine ledige Mutter, welche er vorhin als Mitwisserin genannt hatte, stellte sie dann mit ihm zusammen, und ich mußte mich über die Gewandtheit wundern, mit welcher Mutter und Kind sich in den Augen lagen und ihre Unschuld zu behaupten wußten.
Da die leichtfertige Mutter schon mehrere Jahre in einem Strafarbeitshause hatte zubringen müssen, so war mir's gar nicht unwahrscheinlich, daß der schon ziemlich erfahrene Knabe von ihr die solchen Individuen geläufigen Äußerungen vernommen haben mochte: »man darf nur nichts eingestehen, und wenn man auch schon etwas eingestanden hat, so kann man's auf diese oder jene Weise widerrufen und es kann einem nichts geschehen.«
Über diese Erfahrung sprach ich nun natürlich meinen vollsten Abscheu aus, und was sagte unser Hauser dazu? Auch nicht ein einziges Wort, während er sich sonst über minder auffallende Schlechtigkeiten heftig auszusprechen pflegte. Meinem gewiß arglosen und gutmütigen Weibe [Fußnote] fiel dies so sehr auf, daß sie mir unmittelbar nach Hausers Entfernung aus der Stube bemerkte: »Ist es dir denn nicht aufgefallen, daß dein Hauser diesmal auch gar kein Wort äußerte?« worauf ich ihr entgegnete, daß es mir allerdings auch aufgefallen sei.
Gegen 1 Uhr nach diesem Mittage kam er in seinem alten braunen Rock – ohne Mantel – auf mein Zimmer und zeigte mir an, daß er jetzt zur Frau Oberleutnant Hickel gehe und die Quittung (die ich ihm erst gegeben hatte) hintrage. Um diese Stunde war es also, daß er dort sagte, er wolle von da aus in den Hofgarten gehen, indem ihn der Hofgärtner habe bestellen la**en usw. Hatte Hauser vor, das Attentat an sich zu verüben, so erscheint seine Mitteilung, die er der Frau Oberleutnantin machte, wohl berechnet. Daß er von hier aus keine Einwendungen erhalten werde, durfte er mit ziemlicher [Fußnote] Bestimmtheit annehmen. Durch die Mitteilung konnte er sich aber in den Stand setzen, den jedenfalls zu erwartenden Vorwurf, warum er nichts gesagt habe, wenigstens teilweise zu entkräften.
Ich möchte dann auch darin, daß er in meinem Hause seinen Gang in den Hofgarten gegen niemanden entfernt berührte, wieder erkennen dürfen, daß er mir etwas eigentlich Unangenehmes und allenfalls Nachteiliges durchaus nicht bereiten wollte. So sehr zerstreut und gleichgültig ich Hauser bei meinen letzten Unterrichtsstunden im ganzen gefunden hatte, so mußte mir die Gleichgültigkeit und Zerstreutheit, welche er am Abende vor dem unglücklichen Attentat [Fußnote] am 13. Dezember in der Rechenstunde bewies, später doch im höchsten Grade auffallen. Eine Zerstreutheit in solchem Grade erinnerte ich mich früher doch nie an ihm bemerkt zu haben. Nicht allein, daß er höchst einfache Exempel im ganzen verkehrt auffaßte und behandelte, die er sonst mit Leichtigkeit verarbeitete, nein – er machte diesmal bei der leichtesten Manipulation, selbst bei den gewöhnlichsten Fällen der Addition und Subtraktion Fehler auf Fehler, so daß ich nach langem Zurückhalten nicht umhin konnte, ihm zu bemerken: »Wenn Sie freilich gar keine Lust mehr haben und gar keinen Ernst mehr anwenden wollen, so müssen wir eben die Stunde schließen. Nehmen Sie sich doch etwas mehr zusammen! Es ist ja zu arg.«
Zum besondern Beweis, wie sehr auffallend er es diesmal machte, dürfte noch der Umstand dienen, daß ich unmittelbar nach der Stunde gegen meine Frau (an welche er sich früher oft wandte, wenn er mit einer Rechenaufgabe für die Stunde nicht zurecht kommen konnte) äußerte: »Aber heute, wenn du deinen alten Rechenschüler hättest rechnen sehen und hören, dann würdest du eine Freude an ihm gehabt und dich über ihn gewundert haben. Du kannst dir keinen Begriff von der Unbeholfenheit machen, die er heute zeigte. Ich glaubte es kaum mehr aushalten zu können usw. usw.«
Daß Kaspar Hauser in den letzten Tagen weniger aß als sonst, daß er am Mittage vor dem Unfalle weniger aß als je, daß ihn meine Frau darüber mit den Worten beredete: »Aber Hauser, Sie essen am Ende gar nichts mehr!« und daß er darauf erwiderte: »Ja, ich hab schon einige Zeit her keinen Appetit, kaum daß ich angefangen habe zu essen, bin ich schon wieder satt, und es fehlt mir doch nichts –«, diese und andere Umstände sind Einem hochverehrlichen Untersuchungsgerichte schon vollständig bekannt. Ich habe dabei nur noch darauf aufmerksam zu machen, daß Hauser, weil früher alles so gut für ihn gedeutet wurde, diesmal vielleicht wieder Ahnungen hätte haben wollen.
Um 1 Uhr kam er heute (14.) in demselben Anzuge, wie am vergangenen Mittwoch, auf mein Zimmer und zeigte mir an, daß er jetzt zu Herrn Pfarrer Fuhrmann gehe.
Dabei darf ich nicht unbemerkt la**en, daß Hauser vorzüglich an diesen Tagen schon lange nicht mehr gewohnt war, zu sagen, wo er hingehe, wenn er nicht ungewöhnliche Gänge hatte. Seine bekannten Häuser, zu welchen ja vorzüglich das des Herrn Pfarrers Fuhrmann und das des Herrn Oberleutnant Hickel gehörten, besuchte er sonst in der Regel ohne vorherige Anzeige.
Es verdient seiner gleichfalls erwogen zu werden, daß Hauser in der letzten Zeit nur an den Nachmittagen der Mittwoche und Sonnabende sich etwas länger vom Hause entfernen konnte, ohne es auffallend werden zu la**en. An allen übrigen Tagen – den Sonntag natürlich ausgenommen, an welchem er aber fast immer eingeladen war, – hatte er mehr Unterricht, mehr zu arbeiten und konnte deshalb nur selten und auch nicht so wohl ohne vorherige Angabe der Ursache ausgehen. Daß er nun gerade an diesen zweien Tagen bestellt werden mußte, ließe sich auf eine doppelte Weise erklären. An diesem Nachmittage und insbesondere zwischen 3 und 4 Uhr wußte er mich am sichersten zu Hause, und es war diesmal ein ganz außergewöhnlicher Fall, daß ich bis um halb 4 Uhr außer dem Hause war.
Höchst unnatürlich und daher sehr auffallend erschien mir Hausers Benehmen, als er mit der Stichwunde nach Hause kam. Ich und meine Frau vermögen es nicht besser zu bezeichnen, als wenn wir es mit dem Auftreten der Stummen von Portici auf dem Theater vergleichen. Er deutete nicht eben auf seine Wunde, sondern stellte sich bald vor mich hin, streckte unter fürchterlicher Gebärdung die Hände mehr vor und über sich hinaus und ließ mich die Wunde erst suchen. [Fußnote]
Auffallend war es mir, daß er bei seiner sonstigen Kraft und Fa**ung nicht reden konnte, auffallend, daß er dann sogleich zu sprechen anfing, als ich mit ihm auf dem Wege zum Hofgarten umgekehrt hatte, daß er mich wiederholt bewegen wollte, mit ihm weiter zu gehen, und daß ihm so außerordentlich viel an dem Aufsuchen des Beutels lag. Auffallend fand ich seinen schnellen Blick gen Himmel und die Äußerung: »Gott – wissen«, als ich ihm sagte, daß er diesmal den dümmsten Streich gemacht habe, [Fußnote] nun gar leicht keinen so guten Ausgang wie das vorige Mal nehmen könne. Er durfte bei gutem Gewissen doch wohl nicht leicht etwas anderes annehmen, als daß ich seinen unerlaubten und leichtsinnigen Gang in den Hofgarten damit meinte. Auffallen mußte es mir, daß er auf meine bestimmte Frage: »War der Mann groß?« besonnen antwortete: »mittel«, d. i. mittelmäßig, daß er ihn aber gegen andere, bis ich von der Polizei zurückgekommen war, schon groß mit Schnurr- und Backenbart und in Hut und Mantel hat erscheinen la**en. Bei dem allen und nach meiner näheren Bekanntschaft mit seinem Charakter konnte ich gleich anfangs keinen Augenblick über den Täter im Zweifel sein. Da er bei mir allen Glauben verloren hatte, so zweifelte ich auch daran, ob später an demselben Abende ein Delirium bei ihm auch wirklich eingetreten war, als er ein solches zeigte. Die anscheinend geringe Wunde, seine bewiesene Kraft nach der Verwundung machten mir ein solches unwahrscheinlich. Ich erinnerte mich in dem Augenblicke daran, daß in Nürnberg nach dem bekannten Mordversuche oft zwei Mann an ihm zu halten hatten, und befürchtete, als er in meinem Beisein (es war dies unmittelbar nach der mir von Herrn Pfarrer Fuhrmann gewordenen Mitteilung, daß Hauser ihn soeben nicht erkannt, statt seines Namens den meinigen genannt und im Delirium gesprochen habe), unter dem Rufe: »nach Münken (München) – Münken – nach Münken! – –« aus dem Bette sprang, er wolle nun einen ähnlichen Zustand ankündigen. Darum nahm ich keinen Anstand, ihn jetzt im ernsten Tone zu fragen: was er denn eigentlich vorhabe, ob er sogleich in sein Bette, wohin er gehöre, zurückkehren wolle –, und ihm nachdrücklich zu raten, daß er keine weitern Umstände machen möge, daß ihm eigentlich eine Tracht Schläge gehörten. [Fußnote] Ich wollte mir über diese Strenge später Vorwürfe machen. Allein wenn ich in Erwägung zog, daß er dieselbe nicht fühlte, wenn er den Schritt wirklich im Delirium tat, und daß er sie vollkommen verdiente, wenn er ein solches affektierte, so konnte ich dabei so ziemlich beruhigt bleiben. Von jenem Augenblicke meiner ernstlichen Zurechtweisung zeigte sich übrigens bis zum letzten Abende seines Lebens (bis 3 Tage später also) bei ihm kein Delirium mehr.
In hohem Grade mußte mir endlich auch sein Benehmen auf dem Krankenbette auffallen. Der übrigens so wehleidige Kaspar Hauser, welcher sonst bei dem kleinsten Übelbefinden fast unausstehlich mit seinen Klagen war, der stets jede wirkliche und vermeintliche Zuckung bemerklich machte, klagte diesmal auch mit keiner Silbe über Schmerzen, wenn er nicht gefragt wurde, und im letzteren Falle blieb er äußerst einsilbig. Selbst gegen meine Schwiegermutter, die ihm auch diesmal, wie immer, alle Aufmerksamkeit schenkte und auf die er, weil sie ihm gerne Angenehmes sagte, sehr viel hielt, an die er sich mit seinen Klagen über Schmerzen an einem Finger, einer Zehe usw. stets gewandt und Rats erholt hatte, – selbst gegen diese sprach er diesmal unaufgefordert keinen Schmerz aus.
Von einem freiwilligen Blicke nach oben wurde an ihm während seines dreitägigen Leidens auch keine Spur bemerkt. Es darf bei der Beurteilung seiner religiösen Äußerungen unmittelbar vor seinem Ende nicht unberücksichtigt bleiben, daß er zu denselben erst die vollste Veranla**ung erhalten hatte, und daß ihm die Worte wohl zum Teil in den Mund gelegt wurden.
Ein förmliches Geständnis im schuldigen Falle vor 8 bis 10 Zeugen, welche sein Krankenbett am letzten Abende gewöhnlich umgaben, konnte von Hauser wohl niemand erwarten, der ihn näher kannte und nur einige Psychologie besitzt.
Jene meiner in fraglicher Beziehung gemachten Erfahrungen und Beobachtungen, welche ich auf spezielle Fragen eines hochverehrlichen Untersuchungsgerichtes schon vollständig beantwortet und in den Akten niedergelegt hatte, blieben hier natürlich ganz unberührt. Das ganz Außerordentliche des Falles und die hohe Wichtigkeit desselben bestimmten mich übrigens, nichts unberührt zu la**en, was – nach meiner Ansicht – vielleicht zur Ermittelung der Wahrheit beitragen könnte. Ich hielt dies für meine Pflicht und konnte mich darin durch die vielfach erfahrene Mißbilligung einer gewichtigen Partei [Fußnote] durchaus nicht irre machen la**en.