Ich gestikuliere wild mit den Handflächen und sehe aus dem Bürofenster, während ich versuche, irgendeiner Sekretärin aus Süddeutschland ein «unschlagbares» Angebot einer Versicherung schmackhaft zu machen. Draußen tobt einer dieser ganz fiesen Berliner Oktoberstürme. Regentropfen und Blätter wehen gegen die Scheibe, Menschen rennen quer über die Straße, ein Mann im Anzug hält sich einen Aktenordner schützend über den Kopf. Es ist Montag, und ich habe einen furchtbaren Kater. Ich sehe auf die Zeit rechts unten am Bildschirm: Die nächste Kippe kann ich mir frühestens in zwanzig Minuten erlauben. «Wir haben momentan Großkundenkonditionen», säusele ich mit süßer Stimme in das Mikro vor meinem Mund. Es klingt allerdings mehr wie ein Röcheln. Ich unterdrücke ein Gähnen. «Tut mir leid», sagt die Sekretärin am anderen Ende, «aber wir brauchen wirklich nicht noch eine Versicherung.» «Das ist für Sie aber DIE Gelegenheit.» «Wir sind hier schon versorgt», wiederholt sie. «Bei Ihnen da unten ist bestimmt besseres Wetter, oder?», sage ich schnell. Ich muss unbedingt zum Chef durchkommen. «Also, eigentlich …» «Sie klingen so frisch und freundlich», lüge ich schamlos, «da muss doch bei Ihnen die Sonne scheinen.» «Finden Sie?» «Ja, absolut. Sie klingen wie der Frühling selbst.» Ich lege den Kopf in den Nacken und lockere meinen Unterkiefer. Was erzähle ich hier eigentlich, denke ich, was soll dieser Quatsch? Und gleichzeitig: Stell mich jetzt endlich durch! Mein Kopf dröhnt. «Sehr liebenswürdig von Ihnen.» «Können Sie mich nicht eben mal kurz zu Ihrem Chef durchstellen? » «Wie gesagt: Wir haben keinen Bedarf.» Die Sekretärin ist offenbar immun gegen Komplimente. Viel leicht aber auch nur gegen Schleimerei. An der Frau komme ich jedenfalls nicht vorbei. Eine höfliche Mauer aus Beton. Reine Zeitverschwendung. Das wird wieder nichts. Aber ich will sie wenigstens noch eine Minute lang in der Leitung halten. Als kleine Rache. «Bei näherer Betrachtung könnten sich da aber enorme Kostenvorteile ergeben», bohre ich weiter, «Sie werden sehen.» «Wir sind definitiv schon versorgt.» Wahrscheinlich rollt sie dort hinter ihrem Stuttgarter Schreibtisch gerade mit den Augen. Ich kann es förmlich sehen. «Es kann aber nie schaden, das mal von einem Experten durchrechnen zu la**en», sage ich etwas lauter, «oder wollen Sie etwa kein Geld sparen? Wenn Sie sich diese Chance entgehen la**en und Ihr Chef erfährt davon … Wollen Sie das wirklich riskieren?» Wenn Komplimente nicht helfen, dann hilft vielleicht Druck. «Also, ich …» «Pa**t es Ihnen vielleicht übernächste Woche Mittwoch?» «Tut mir leid.» «Nichts zu machen? Ein kleiner Termin, zur Sicherheit? Wirklich nicht?» Ich presse die Augen zusammen und komme mir vor wie ein bettelndes, kleines Kind. Bitte machen Sie doch einen kleinen Termin! Nur einen einzigen! «Auf Wiedersehen, Herr …» «Eckert, mein Name», sage ich, «Stefan Eckert.» «Herr Eckert. Schönen Tag noch.» «Dann halt nicht!», rufe ich laut. Allerdings erst, nachdem ich das Tuten gehört habe. Mit einem Klacken landet mein Zeigefinger auf der Enter-Taste. Der Aufruf «Nächster Kunde?» erscheint auf dem Bildschirm. Dreiundzwanzigster Anruf an diesem Morgen und immer noch kein einziger Termin. Jeden Tag rufe ich pausenlos bei unzähligen Sekretärinnen an und kämpfe um einen Termin. Der Termin ist der Fuß in der Tür. Ein Versicherungsvertreter schlägt dann bei den Unternehmen auf und versucht, denen so viele Versicherungen wie möglich anzudrehen, nach dem Motto: Wenn man schon wegen der Kfz- Versicherung für die Firmenwagen da ist, kann man sich ja auch gleich mal über die betriebliche Altersvorsorge der Mitarbeiter unterhalten. Ob dem Vertreter das gelingt, das ist sein Problem. Für mich zählt nur der Termin. Klingt ziemlich einfach, ist es aber nicht. Vor allem, wenn einem Versicherungen aller Art zum Hals heraushängen und man keine Lust mehr hat, so zu tun, als brauche jedes Unternehmen mindestens hundert davon. Ich nehme das Headset ab und reibe mir die Ohren. Als ich mich auf dem Stuhl zurücklehne, trifft mich der tadelnde Blick von Alex, einem Kollegen, der während der Arbeit p**nos guckt – die ganz ekligen. Er bringt ansonsten kaum ein Wort heraus, macht aber mit Abstand die meisten Termine klar. Ich weiß nicht, wie er das schafft, vielleicht ist er einfach nur hartnäckig, oder die p**nos auf der Netzhaut verändern seine Stimme auf irgendeine geheimnisvolle Weise so, da** die Sekretärinnen ihm nichts mehr abschlagen können. Wir arbeiten zwar seit Monaten im selben Büro, aber länger als eine Viertelstunde haben wir uns noch nicht unterhalten. Das Call-Center ist in einer Altbauwohnung im Erdgeschoss angesiedelt: drei Zimmer, Küche, Bad. Im Zimmer zum Hof raus sitzt unsere Chefin, Nicole. Nicole ist kaum älter als ich. Eine kleine blonde Energiebombe. Sie hat früher schon in der Versicherungsbranche gearbeitet und sich vor ein paar Jahren mit dem Call-Center selbständig gemacht. Beim Bewerbungsgespräch haben wir uns sofort verstanden. Manchmal kommt ihre herzensgute Mutter Trautchen vorbei und versorgt uns mit Gurken und Tomaten aus ihrem Garten. In den beiden anderen Zimmern sind j**eils drei Telefon- Agenten unterbracht. In jedem von ihnen hängt ein großes Poster mit einer Urlaubslandschaft, in der Küche nur ein Whiteboard. Mit einem blauen Filzstift sind darauf die Namen aller Kollegen geschrieben. Dahinter steht ein Strich für jeden Termin, den wir geschafft haben. Vier am Tag sollten es schon sein, hatte Nicole mir beim Bewerbungsgespräch gesagt. Die Striche werden jeden Morgen wieder weggewischt. Ich betrachte Alex, der völlig von seinem Gespräch absorbiert ist. Blaue Striche, denke ich, das ist der Fame, den ich hier bekommen kann. Aber das System funktioniert tatsächlich. Jedes Mal überkommt mich ein perverses Glücksgefühl, wenn ich mit leuchtenden Augen wie ein stolzes Kind in Nicoles Büro tapse, ihr den frischen Terminzettel präsentiere und ein neuer Strich hinter meinem Namen erscheint. Mein Rekord liegt bei sechs Strichen. Sechs Termine straight. An dem Tag hatte ich den Sekretärinnen allerdings das Blaue vom Himmel versprochen. Normalerweise sitzt neben Alex noch Gerda, eine sechzigjährige energische Dame, die trotz ihres Alters noch Zopf trägt. Heute kommt sie wahrscheinlich später. Sie versucht es bei der Termine-Akquise meist mit der mütterlichen Masche, von wegen «Bald ist ja schon wieder Spargelzeit» und «Beim Einkauf kann man ja auch viel sparen, das glaubt man ja gar nicht, da lohnt sich der Vergleich, in einem Geschäft kostet die bu*ter sechzig Cent und im nächsten schon einen ganzen Euro mehr. Genauso ist das auch mit den Versicherungen.» Ihre Strategie funktioniert gar nicht mal schlecht. In der Mittagspause verschwindet Gerda immer zur exakt selben Zeit nach draußen. Keiner weiß, wohin sie geht. Ich vermute allerdings, da** sie in der Nähe wohnt und zu Hause die aktuelle Folge von «Rote Rosen» schaut. Jedenfalls erzählt sie sehr viel von dieser Serie, die immer mittags läuft, von irgendeinem Heinz oder so, der ganz toll und ehrlich sei. So genau kann ich mir das nie merken. Ich rappele mich hoch und tappe ans Fenster. Es ist Herbst draußen, verdammter Herbst. Seit über einem Jahr telefoniere ich hinter dieser Scheibe. Als Call-Center-Agent in der Kaltakquise. Ich habe mich an den stumpfen Ablauf dieser Tagesstruktur gewöhnt und rede mir ein, da** ein sicherer Job das Wichtigste ist. Ein Job mit drei Highlights am Tag – die Mittagspause um halb eins, die Kaffepause um drei und schließlich der Feierabend um fünf. Ich rede mir ein, da** Sicherheit gleich Zufriedenheit ist. Und von Freitag bis Sonntag tauche ich dann ab. In die Welt der Berliner Clubs, wo mir in einem Film aus Musik und Alkohol alles wie ein großes, nie endendes Abenteuer vorkommt und das Call-Center unglaublich weit weg erscheint. Bevor dann am nächsten Montag alles wieder von vorne losgeht. Am Telefon heiße ich Stefan Eckert. Am Anfang habe ich noch meinen richtigen Namen gesagt, aber «René El Khazraje», das konnte sich niemand merken, und nach zwei Wochen hatte ich genug von «El-Karsai» und «El-Khaz-wer-bitte-noch-mal …?». «Stefan Eckert», das versteht niemand falsch. Und seitdem ich mich am Telefon so nenne, ist dieser Stefan Eckert in mir auch wirklich immer stärker geworden. Stefan Eckert frisst den chaotischen, verplanten René von innen auf. Stefan Eckert ist ordentlich und hat ein normales Leben. Stefan Eckert kennt sich total mit Firmensachversicherung aus, und seine heiße Leidenschaft ist der rote Gesprächsleitfaden. Stefan Eckert bügelt seine Socken. Echt. Stefan Eckert schneidet sich sogar Low-Fat-Rezepte aus der Brigitte aus, weil er vom Rumsitzen am Telefon ganz schön zugenommen hat. Stefan Eckert muss Miete bezahlen. Stefan Eckert ist das bürgerliche Notfallprogramm von MC Rene. Auch die Call- Center-Kollegen nennen mich inzwischen so. Gerda glaubt, da** ich wirklich so heiße. Ich stehe am Fenster und denke: Stefan Eckert, also known as: MC Rene. Vor fünf Jahren habe ich zweitausend Leute gerockt. Ich hatte meine eigene Show bei Viva, fünf fertige Platten, und auf der Straße haben mich manchmal die Leute erkannt. Ich habe Musikvideos von meinen Songs gedreht. Ich war wer. Als Stefan Eckert kommen mir diese Erinnerungen seltsam vor, irgendwie fremd. Wie ein längst vergangenes Leben. Aber dann ist plötzlich alles wieder da: der Blick über die kreischende Menge hinweg, meine Stimme aus den Boxen, und es kommen Worte, immer neue Worte aus meinem Mund, und ich denke: Wie geil. Und jetzt? Was mache ich hier? Wie bin ich bloß in diesem Call-Center gelandet? Zum Glück rettet mich Eric, mein Lieblingskollege, in diesem Moment vor dem sentimentalen Tiefflug. Er ist aus dem Nachbarbüro reingekommen und klopft mit der flachen Hand auf den Tisch. Eric ist wahrscheinlich der einzige Grund, warum ich es hier immer noch aushalte. Eric, das sind ein Meter fünfundsechzig voll Charme und Tricksereien. Mit schwarzen Locken und Gaunerschnurrbart. Wahrscheinlich könnte er jemandem die eigene Mutter als Oma andrehen. Eric heißt mit Nachnamen Durso, nennt sich am Telefon aber «Fischer». Auch er hatte früher ein anderes Leben. Vor vielen Jahren hat er als Radiopromoter in Frankfurt gearbeitet, damals, als es noch dicke Spesenabrechnungen gab und auf Firmenkosten in Bordells gekokst wurde. Dann ist er unter nebulösen Umständen, die er mir nie so richtig erklärt hat, nach Costa Rica ausgewandert, um dort ein Restaurant zu betreiben. Als das pleite war, ging er zurück und kam ins Call-Center. In seiner Freizeit spielt er Schlagzeug in der Band «Budzillus», der ersten und bisher einzigen Vertreterin einer selbst entwickelten Musikrichtung namens «Oriental Swing Punk». Wir wollten beide lieber Künstler sein. Und jetzt sind wir hier wie zwei Buckelwale gestrandet. Obwohl ihn die Arbeit genauso frustriert wie mich, verliert Eric nie seine gute Laune. Früher haben wir im selben Zimmer telefoniert und aus jedem Gespräch einen Wettkampf gemacht. Mit ihm machte das Telefonieren plötzlich Spaß. Wir kamen uns vor wie ein total verrücktes Team, das die Großkunden checkt und statt irgendwelcher Platten eben den Hörer auflegt. Was ist das schon für ein Unterschied – ob man jetzt für die Musikindustrie rappt oder für eine Telefongesellschaft? Ist doch beides gleich cool. Oder? Irgendwann ist der Chefin aufgefallen, da** wir uns gegenseitig von der Arbeit ablenken. Deshalb hat sie uns auseinander gesetzt. Ihr sollt die Kunden volllabern, nicht euch gegenseitig, hat sie gesagt. An Erics Grinsen kann ich erkennen, da** er heute schon mindestens einen Termin in der Tasche hat. «Stefan, wie läuft's?», ruft er mir zu, während aus der Richtung von Alex nur ein grummelndes Geräusch zu vernehmen ist. «Immer noch beim ersten? Kein Wunder. So verkrampft, wie du aussiehst, kann das ja nicht funktionieren. Mach dich mal locker. Das überträgt sich auf deine Stimme, kannst du mir glauben. Ich habe schon zwei Termine klargemacht. Mann, und es ist noch nicht mal elf Uhr. « Eric und ich haben seit ein paar Wochen eine Wette laufen: Wer bis zur Mittagspause die meisten Termine hat, der bekommt vom anderen das Mittagessen bezahlt. Wie hat der bloß jetzt schon zwei Termine hingekriegt? Aber bis um halb eins kann ich ihn ja noch übertrumpfen. «Übrigens, mein schöner Freund», fügt er hinzu, «du hast ein Rendezvous mit der Chefin. Sie will dir was zeigen. Jetzt gleich.» «Alles klar», sage ich und setze mich in Bewegung. Was will denn Nicole jetzt von mir? Vielleicht, überlege ich, ist es jetzt endgültig vorbei mit meiner Sonderstellung. Eric und ich haben ganz offensichtlich einen Stein bei ihr im Brett. Schon während des Bewerbungsgesprächs war sie ganz begeistert von meiner «deutlichen» Aussprache und meinte: «René, du wirst mal mein goldenes Pferd!» Eingelöst habe ich diese Hoffnung zwar bisher
nicht, aber ich zehre noch von ihrem Wohlwollen. Nicole hat mir immer vieles durchgehen la**en, sogar, da** ich einmal betrunken mit Sonnenbrille direkt von einer durchgefeierten Nacht im Mauerpark ins Büro gewa*kt kam. Aber in den letzten Wochen habe ich ziemlich stark abgebaut, kaum noch drei Termine pro Tag geschafft. Jetzt kommt der Anschiss, denke ich. Oder sie feuert mich endgültig. Als ich in das Büro meiner Chefin komme, bin ich von der lauten Rap-Musik überrascht, die mir entgegenschlägt. «René, das habe ich ja gar nicht gewusst!» Meine Chefin springt von ihrem Stuhl auf, bewegt sich im Rhythmus der Beats und breitet die Arme aus, als hätten wir uns lange nicht mehr gesehen. Ich denke: Scheiße, jemand hat meine Vergangenheit auffliegen la**en. Das kann nur Eric gewesen sein, schließlich ist er der Einzige, der hier davon weiß. «René», sagt sie beinahe kreischend, «du bist ja berühmt! Du kannst ja rappen!» Erst nach einem Blick auf ihren Bildschirm und auf ein wohl bekanntes YouTube-Video wird mir klar, was sie da hört. Meine eigene Musik. «1, 2, 3, Rhymes Galore von DJ Tomekk Ft Afrob, Flavor Flav, Grandmaster Flash & Mc Rene.» «One, two, three, from New York to Germany», tönt es aus den Lautsprechern. Es ist zwar meine Musik, aber ich würde am liebsten wegrennen. Zu Gerda vielleicht und mit ihr Soaps angucken. Aber Nicole hält mich am Arm fest und zeigt auf ihren Bildschirm. In dem Video sehe ich mich selbst. Zehn Jahre jünger, lange Haare, mit Sonnenbrille und roter Mütze. Ich stehe vor einem alten, stylischen New Yorker Payphone, lege den Hörer auf und laufe dann rappend auf die Kamera zu über die Straße. Das Ganze ist in 35-mm-Kinooptik aufgenommen und sieht immer noch aus, als wär's der Blockbuster vom letzten Jahr. «In diesem Augenblick war klar, wo seine Zukunft liegt», höre ich mich selbst, «er musste auf die Bretter, die die Welt bedeuten, wollte rocken wie die andern Rapper, vor ganz vielen Leuten.» Tja, denke ich, während die Chefin neben dem Kopiergerät herumflasht, hat wohl nicht so ganz geklappt. «… kriegt heute noch 'ne Gänsehaut, wenn er in die Menge schaut», rappe ich in dem Video. «MC Rene!», staunt Nicole, «Wenn ich das gewusst hätte! Mann! Das hat ja über eine halbe Million Klicks!» Sie klatscht in die Hände und macht Anstalten, mich zu umarmen. Ich schnappe mir ihre Maus und bringe das Video endlich zum Schweigen. «Ist lange her», sage ich. Sie sieht mich an wie eine stolze Mutter. «MC Rene! So was! Was sich alles so hinter den Angestellten verbirgt! Wieso hast du denn mit dem Rappen aufgehört?» Sie bewegt sich immer noch rhythmisch, obwohl die Musik schon aus ist. «Ist eine lange Geschichte.» Ich fühle mich zwar ein wenig geschmeichelt, aber irgendwie sind mir meine eigenen Texte in diesem Moment peinlich. Ich verstehe selbst nicht, wieso. Nicole schnippt mit den Fingern. «Sag doch mal, wieso rappst du jetzt nicht mehr? Das ist doch richtig cool! Wieso machst du da nichts draus?» Das ist die Frage, der ich hier im Call-Center nicht begegnen wollte. Durch die offene Tür kann ich Alex mit seinem Headset über der Helmfrisur erkennen. «Tja», sage ich, «wieso mache ich das nicht mehr weiter? Keine Ahnung, ehrlich gesagt.» Wenn mich am Wochenende in den Clubs jemand fragt, was ich denn eigentlich so mache, womit ich mein Geld verdiene, erzähle ich manchmal, da** ich gerade dabei bin, «in Richtung Comedy» zu gehen. Weil ich mich neu erfinden will und in der Hip-Hop-Szene immer schon der Paradiesvogel war, der sich selbst nicht so ernst genommen hat. Die Leute sind dann oft total beeindruckt. «Geil, du bist Comedian?», fragen sie. «Und du kannst davon leben?» – «Geht so», antworte ich dann betont bescheiden, und da** ich gerade ziemlich viel ausprobiere. Die wenigsten fragen dann noch mal nach. Was ich nicht sage: Ich habe noch kein richtiges Programm, nehme jeden Auftritt an, den ich kriegen kann, auch ohne Honorar, und bin ansonsten Vollzeit im Call-Center beschäftigt. «Ich will mal mehr von dir hören», unterbricht Nicole meine Gedanken, immer noch total aus dem Häuschen. «Ich weiß nicht», sage ich zögernd, «kann ja mal eine CD von mir mitbringen.» Sie lehnt sich an ihren Schreibtisch und flüstert mir verschwörerisch zu: «Du musst unbedingt mal einen Freestyle für uns hinlegen, okay?» «Okay», antworte ich, «da fällt mir bestimmt was ein. Aber BerlinFriedrichshain nicht jetzt. Ich muss bis zur Mittagspause unbedingt noch einen Termin klarkriegen. Du weißt doch, die Wette mit Eric. Der isst sonst wieder mmindestens drei Schnitzel auf einmal, und ich muss dafür blechen.» Etwas abrupt la**e ich sie stehen und gehe zurück an meinen Platz. Ich sehe Alex gar nicht erst an, sondern schnappe mir gleich den dicken Ordner mit der gefürchteten Wiedervorlage. Da sind all jene Nummern drin, bei denen schon zehn Mal angerufen, aber nie jemand erreicht worden ist. Die frischen Adressen sind immer begehrt, die Mappe mit der Wiedervorlage dagegen schieben wir uns immer nur gegenseitig zu. Aber ich brauche jetzt eine Herausforderung. Ich will mich richtig in die Arbeit stürzen. Telefonieren und vergessen; entscheide mich sogar für das härteste Gebiet: Hamburg, wo die Leute unserer Erfahrung nach genauso distanziert sind, wie das Klischee besagt. Hamburg, fällt mir sofort ein, da bin ich doch früher mit «Fettes Brot» und den «Absoluten Beginnern» aufgetreten. Auf der Bühne stehen, denke ich und wähle die Nummer, ist wahrscheinlich wie eine Droge. Gerade wenn man sicher ist, endgültig davon los zu sein, liegt sie wieder verlockend vor einem, und man kann an nichts anderes mehr denken. Mein altes Leben verfolgt mich. «Schönen guten Tag», sage ich wie immer, «Stefan Eckert mein Name, vom Firmenservice der xy-Versicherung. Wir haben zurzeit Großkundenkonditionen für klein- und mittelständische Unternehmen im Bereich der Firmensachversicherung.» Plötzlich kommt es mir komisch und lächerlich vor, da** ich mich als Stefan Eckert melde. Stefan Eckert, wer soll das sein? Meine verborgene gutbürgerliche Identität, die ich nie hatte? Mit einem Mal fällt mir auf: Stefan Eckert ist nicht nur ein falscher Name, den man besser versteht. Sondern eine Tarnung, ein Versteck, damit mich niemand mehr fragt, wieso ich hier eigentlich arbeite. Stefan Eckert, der Call-Center-Agent, das klingt vernünftig. MC Rene, der mit dem Rappen aufgehört, nicht mehr zurück ins Business gefunden hat und jetzt Versicherungen zu Großkundenkonditionen am Telefon anbietet – das klingt einfach nur beschissen. «Guten Tag», unterbricht eine Sekretärin in diesem Moment am anderen Ende der Leitung meine Gedanken, «was kann ich für Sie tun?» «Sie müssen mir nur zwei Minuten zuhören», sage ich, «das ist alles. Ich habe nämlich ein einmaliges Angebot für Sie.» Ich versuche, ein letztes bisschen Euphorie in meine Stimme zu legen. «Zwei Minuten, wär das okay?» «Na ja», sagt sie, «die Zeit hätte ich schon. Worum geht's denn genau?» In den folgenden zwei Minuten versuche ich verzweifelt, das Vertrauen der Sekretärin zu gewinnen und meine Stimme süß und seriös zugleich klingen zu la**en. Als alles nichts hilft, lenke ich das Gespräch auf allgemeinere Themen, erzähle sogar vom «demnächst» bevorstehenden Advent, obwohl das noch zwei Monate hin ist. Als ich von meinen «superschokoladigen» Plätzchen anfange, spüre ich endlich ihr Interesse, will schon zum tödlichen Schlag ausholen und den Termin klarmachen, da wimmelt sie mich plötzlich ab: «Okay, ich werde das mal mit unserem Versicherungsmann besprechen», und legt auf. Wieder nichts. Das Schnitzel kann ich vergessen. Auch in der nächsten halben Stunde habe ich kein Glück. «Wenn dieser Experte, den sie zu uns schicken, so wichtige Neuigkeiten hat», argumentiert eine Sekretärin sehr überzeugend, «wieso können Sie mir die nicht schon jetzt am Telefon erklären?» «Wir kaufen nichts», sagt eine andere und legt, klick, auf. Eric reibt sich die Hände, als er um halb eins einen Blick auf die Tafel wirft und die leere Fläche hinter «Stefan» sieht. «Ist nicht dein Tag», sagt er und: «Mann, hab ich Bock auf ein Schnitzel auf deine Kosten!» Wir gehen zwei Straßen weiter zu unserem grandiosen Stammrestaurant Metzger Schrottmann. Normalerweise stimmt mich allein die Tatsache, aus dem Call-Center raus zu sein, euphorisch. Aber diesmal ist eine Kleinigkeit anders. Es ist, als wäre ich aus einem dichten, alles einlullenden Nine-to-five-Nebel aufgewacht. Ein harmloses Hip-Hop-Plakat auf dem Weg versetzt mir einen Stich. Ich kenne nämlich den Rapper, der darauf angekündigt ist, noch aus den Neunzigern, als er ein kleiner, schüchterner Junge mit Pickelgesicht war und niemand ihm etwas zugetraut hat. Damals, als es in Deutschland mit dem Hip-Hop richtig fett wurde und alles möglich schien. Als ich das Freestyle-Talent war. Als ich dachte, ein Gig in Hamburg ist der Anfang von einer langen Serie von Erfolgen, Auftritten, Bräuten und einer tosenden Crowd. Ich sage mir: Auch Jay-Z und Busta Rhymes waren zwischendurch mal nicht so richtig erfolgreich. Die haben auch einfach weitergemacht. Aber wo soll ich weitermachen, wenn ich nicht mal genau weiß, wo es überhaupt langgehen soll? Mein letzter Track ging über eine Viertelstunde, hieß «Die Enthüllung» und war die autobiographische Geschichte über eine zehnjährige Karriere als Rapper in Deutschland. Mein Abschiedslied und gleichzeitig mein Abgesang auf die deutsche Hip-Hop-Szene, in der es vor allem darum ging, mit einem harten Gangster-Image möglichst viel Geld zu verdienen. Ich bestelle mir einen kleinen gemischten Salat. «Was los, Digger?», fragt Eric ehrlich überrascht. «Haste Angst, fett zu werden, oder was?» «Nö, nö», sage ich, «hab einfach nur gerade Bock auf Salat. Du kannst ruhig zwei Schnitzel essen. Hast es dir ja verdient.» Tatsächlich habe ich auf einmal Angst, in zehn Jahren und nach zweitausend Schnitzeln bei Schrottmann als wabbelndes, immer noch telefonierendes Etwas voller schlechter Laune zu enden. Wie eine Mischung aus Gerda und Alex. Kaltakquise, fällt mir plötzlich auf, klingt wie die Vorbereitung zur eigenen Obduktion. Eric ist mal wieder bester Laune, aber ich bin ihm noch ein klein wenig böse. «Was sollte das eigentlich mit Nicole?», frage ich ziemlich laut. «Wieso hast du der von MC Rene erzählt?» «Ach, keine Ahnung, das hat sich so ergeben. Außerdem wird dir das nur Vorteile bringen, glaub mir. Die hat ein Faible für Künstler.» «Aber ich fand's irgendwie besser, nur Stefan Eckert zu sein. War einfach pa**ender und nicht …» So richtig kann ich es nicht erklären. «Ich muss irgendwas ändern», sage ich mit Blick auf die Fleischauslagen in der Vitrine. «Irgendwie muss das geiler werden.» «Nimm doch zur Abwechslung mal was mit Kalb oder so. Die Lammkoteletts sind hier auch nicht schlecht.» «Nein, ich meine: was Wichtiges ändern. Sonst enden wir beide vielleicht mal so.» Aus irgendeinem Grund zeige ich dabei auf die Fleischauslagen. «Wie zwei Fleischwürste?» Eric lässt sich überhaupt nicht aus der Ruhe bringen. Allein der Gedanke an das bevorstehende Schnitzel scheint ihn glücklich zu machen. «Nein, aber vielleicht als Call-Center-Leichen im Nine-to-five- Gruselkabinett. Du weißt doch, was ich meine. Frustriert. Ohne Perspektive und ohne Lust auf den Job, den man den ganzen Tag macht. Mit schlechter Laune. Ich kann mich nicht ausstehen, wenn ich schlechte Laune habe.» «Ist doch alles entspannt. Jeden Monat kommt Geld aufs Konto. Und Nicole ist wirklich nicht die schlechteste Chefin, die man sich denken kann.» «Ja, aber …» «Wenn dir was fehlt, dann gründe doch 'ne Familie. Mach ein Kind. Bau dir ein Haus. Irgendwas in der Richtung. Werd' halt richtig zum Stefan.» «Ich will wieder auf die Bühne, wahrscheinlich ist es das.» Als der Salat endlich vor mir steht, tut es mir leid, da** ich nicht doch das Schnitzel genommen habe, und schiele neidisch auf Erics Teller. «Ach, René. Die Bühne? Bist du dafür nicht schon zu alt?» Eric zieht eine Augenbraue nach oben. «Fürs Rappen vielleicht. Aber als Comedian kann man in jedem Alter anfangen. Ich will ja nicht Sprintweltmeister werden. Es gibt Comedians, die hatten mit fünfzig ihr erstes Programm.» «Ach wirklich? Na, dann kündige halt und such dir Auftritte. Probier's aus. Bekommt man da denn überhaupt Geld?» «Wieso nicht? Für meine Freestyles habe ich auch immer was bekommen», sage ich, «davon könnte man schon irgendwie leben. Wäre natürlich knapp. Das Problem sind die Reisekosten, die kleinen Bühnen haben ja kein Geld.» Eric hat eine Idee. «Dann kauf dir doch 'ne Bahncard 100. Die bezahlst du einmal und kannst dann immer damit fahren, wohin und sooft du willst.» Eric meint das als Witz, lacht laut auf und widmet sich wieder intensiv seinem Schnitzel. «Super Idee», sage ich ironisch, «echt cool: Ich toure mit der Deutschen Bahn durchs Land.»